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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Brauen, die hellen Haare auf dem Kissen zerzaust. Sie kannte ihn nicht. Aber etwas in seinen Zügen berührte sie. Etwas, das nicht fremd war.
    Er bewegte sich nicht. Atmete flach.
    Auf den Zehenspitzen schlich Mina zum zweiten Bett. Das neue, heiße Gefühl bebte in ihr, so sehr, dass sie sich am weiß gestrichenen Holz festhalten musste. Das Bett quietschte einmal grell in der Stille.
    Aber nichts sonst rührte sich.
    Mit angehaltenem Atem tat Mina die letzten zwei, drei Schritte. Bis zum Kopfende des Bettes, wo ein Gesicht auf dem Kissen lag. Das Gesicht eines jungen Mannes.
    Er war nicht blass wie der schlafende Junge. Er war totenbleich. Als hätte seine Haut niemals Sonne gekannt. Und auch seine Augen waren fest geschlossen. Unter den kurzgeschorenen Haaren glänzten Narben auf seinem Kopf. Mina umklammerte das Bettgestell so fest, dass das Blut aus ihren Knöcheln wich.
    Helle Bartstoppeln bedeckten seine eingefallenen Wangen. Bartstoppeln, die sich bis hoch zum Jochbein zogen. Dorthin, wo unter dem stachligen Flaum an einer winzigen Stelle die Haut dunkler war. Nicht größer als der Nagel am kleinen Finger; ein Mal, geschwungen wie ein Blatt.
    Oder wie eine Feder.
    Mina fiel, sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Knie gaben nach, ihre Finger hatten keine Kraft mehr. Sie schlug auf den steinernen Boden auf, ohne es zu spüren.

    Lange kauerte sie so; endlos lange. Aber sie musste wieder aufstehen, irgendwie. Ein Bett war noch übrig.
    Sie wusste, was sie finden würde. Und trotzdem musste es gefunden werden. Sie ging zum dritten Bett, das am dichtesten beim Fenster stand. Hörte die Nachtluft, die von draußen sacht über den Rahmen strich.
    Senkte den Blick.
    Das gleiche Gesicht. Nur das schwarze Mal auf der anderen Seite. Das gleiche Gesicht. Die gleichen Narben. Und auch hier regte sich nichts.
    Trocken brannten Minas Augen.
    Sie schleppte sich um das Bett herum. Eine weiße Tafel hing auf dem Holz am Fußende; als sie sie aufnahm, sprangen die unleserlichen Kürzel und Zeichen sie an, die schwarzen Buchstabenkolonnen und rätselhaften Federstriche. Sie hatten keine Bedeutung. Wichtig war nur der Name, der ganz oben stand, doppelt unterstrichen.
    Ranzau.
    Und davor …
    Johann , flüsterte Mina in ihrem Kopf. Johann, Johann.
    Ihre Augen schmerzten so sehr. Sie rieb darüber, mit den Fingerknöcheln, während sie zurück zum Fußende des zweiten Bettes ging.
    Heinrich.
    Heinrich und Johann.
    Zwei Namen für zwei Gesichter auf verblassten Photographien.
    Zwei Namen für zwei verschwundene Leben. Die ein drittes hätten umschließen sollen. Ein drittes, das sie nur einen flüchtigen Augenblick lang hatten berühren können.
Die Tafel klapperte, als sie sie gegen das Bett zurückfallen ließ. Sie hörte es kaum. Und nichts bewegte sich unter dem lauten Geräusch.
    Peter, das war der kleine Junge. Peter Lorenzen. Erst jetzt, wo Mina seine Tafel sah, fiel ihr die kurze Liste aus dem Waisenhaus wieder ein. Auch er hatte darauf gestanden. Und Lorenzen … Lorenzen war der Name gewesen, den Tante Elisabeths Mann seiner Familie gegeben hatte.
    An den drei anderen Betten waren die Tafeln abgewischt worden. Aber die Namen, die darauf gestanden hatten, flüsterten sich in Mina.
    Hinrichsen, S.
    Petersen, H.
    Stockfleet, M.
    Zeit verstrich, kalt und leer. Zeit, in der Mina nichts tat, als dazustehen und auf die reglosen Gesichter hinunterzustarren, die ihre Familie waren. Immer wieder zuckte es in ihren Fingern, sich auszustrecken, sie zu berühren, die bleiche, bleiche Haut; zu schütteln, zu rütteln, wenn es sein musste, bis diese schattigen Augenlider sich endlich hoben und diese blassen Lippen sich öffneten, um heiser vom langen Schweigen zu fragen:
    Mina? Mina, bist du es?
    Kleine Mina, wir haben so sehr gewartet …
    Aber sie tat es nicht, weil die Stille dieser Gesichter so sehr der Stille ähnelte, in der sie Karol gefunden hatte, damals, im Taterlock; weil sie wusste, dass es nichts gab, was dieses Schweigen zerbrechen konnte. Und keine heisere Stimme sprach, und sie stand allein.
    Aber währenddessen wuchs das heiße Gefühl in ihr. Wurde von der Wurzel zum Schößling, zu Blättern, zu
Ranken, die sich in ihrem Inneren nach oben tasteten, bis in ihren Kopf. Stark war es, wie ein Baum. Aber es hatte nichts Ruhiges und Friedliches an sich.
    Als es ganz oben angekommen war, als seine glühenden Ranken sich bis in Minas Augen und Ohren und bis in ihre Fingerspitzen ausgestreckt hatten, da fand sie einen Namen

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