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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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weichen Bezug schlummerte hartes, kantiges Metall.
    Sie rieb sich das Bein, stützte sich ein wenig auf der Tischplatte ab, um es zu entlasten, als sie beim Sekretär angekommen war. Die Papiere dort fächerten sich ineinander, übereinander. Hingen mit den Ecken über die Tischkante hinunter. So viel Papier, und so unendlich viele winzige, schwarz gedruckte Buchstaben darauf. Mina senkte den Kopf und kniff die Augen zusammen.
    … haben die moderneren, restriktionsfreieren Konzepte die veralteten Formen der Behandlung abgelöst. Anempfohlen wird nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen die gnädige und vollständige Isolation der Patienten von allen vorherigen Beeinflussungen und Umständen, vorzugsweise in ländlicher Umgebung. Beschäftigung mit stillen, natürlichen Dingen wie Gartenarbeit …
    Der Terrassenraum schob sich vor Minas Augen, der »Garten« mit seinen schreienden künstlichen Blumen. Schaudernd rieb sie sich über die Arme.
    Die Papiere schienen in keiner Ordnung zu liegen. Sie wagte es, ein paar dünnere Stapel vorsichtig beiseitezuschieben, streifte mit den Fingerspitzen über immer neue Buchstabenkolonnen. Es schienen alles Erörterungen zu sein, gelehrte medizinische Abhandlungen über den modernen Umgang mit Patienten; Patienten, die man - Mina zwang sich, es lautlos auszusprechen - auf der Straße Irre genannt
hätte. Hier hatten sie andere, wissenschaftliche Namen. Chronisch Demente. Melancholiker. Epileptisch Tobsüchtige. Mina verstand kaum, was diese Namen im Einzelnen bedeuteten; aber sie spürte, dass auch hinter den wissenschaftlichen Bezeichnungen nichts anderes stand als das eine Wort: verrückt.
    Innerlich seufzte sie tief.
    Unter einem Stapel schaute etwas hervor, das wie eine Federzeichnung aussah. Die Papiere gerieten ins Rutschen, als Mina sie herauszog; vielleicht nur, weil die eine kleine Ecke, die sie hatte sehen können, so anders wirkte als die endlosen Buchstabenreihen. Als sie sie in den Händen hielt und erkannte, was die Zeichnung darstellte, fingen ihre Finger an zu zittern.
    Ein menschlicher Schädel, gestochen scharf. Keine Haut, kein Fleisch. Keine Augen. Nur der blanke Knochen, mit bloß gelegten Zahnreihen. Sorgfältig gestrichelte Linien waren darübergezogen, kürzere, längere, manche quer, manche längs. Jede war mit einem winzigen Buchstaben versehen. Unter der Zeichnung stand in einer steilen, kräftigen Männerhandschrift:
    Untersuchte Trepanationslinien.
    a)-c): gute Erfolge des Schweizer Kollegen, fast völlige Ruhigstellung bei massivster Tobsucht.
    d): erste variierte Anwendung bei destruktivem Halluzinations- und Suggestionsverhalten; Fehlversuch, 1902.
    e): Partieller Erfolg, s. nähere Erl. in Akte F4-31, aber letaler Ausgang infolge von Krampfanfällen; 1902.
    f) - g): letaler Ausgang infolge von Infektion; 1904, 1907.
    h): abgebrochener Versuch, Infektionsgefahr zu hoch; Rückstellung,
bis weitgehende Ausschaltung dieser Problematik erreicht; 1910.
    Mina wusste nicht, was eine Trepanationslinie war. Sie brauchte es nicht zu wissen. Unter den Buchstaben an den Enden der Linien waren winzige Zacken gezeichnet. Wie von einer Säge.
    Schwindelnde Leere öffnete sich in ihr, kreisender Nebel über einem bodenlosen Abgrund. Aber tief, tief unten schlug ein Gefühl seine Wurzeln ins Nichts. Ein Gefühl, für das sie keinen Namen hatte.
    Heiß war es. Es half gegen den Schwindel. Und gegen die Kälte, die ihr unter die Haut kroch.
    In ihren Fingern knisterte das Papier. Als sie aufblickte, sah sie die zweite Tür, dicht neben dem Sekretär, in einem Winkel. Sie war so klein, so hell gestrichen wie die Wand, dass sie sie nicht bemerkt hatte. Ein Riegel lag davor.
    Langsam, schwerfällig wie unter Wasser, ging sie darauf zu.
     
    Zuerst sah sie nur Betten, in dem Licht, das aus dem großen Raum mit ihr kam. Sechs Betten, weiß und regelmäßig. Ein kleines, hohes Fenster in der gegenüberliegenden Wand mit Gitterstäben davor stand halboffen; von dort, von draußen, schienen die einzigen schwachen Geräusche zu kommen. In dem schmalen Zimmer selbst war es still.
    Still lagen auch die Gestalten, und deshalb sah sie sie erst, als sie den Riegel losließ und weiter in den Raum hineinging. Drei Umrisse unter den Laken, dort, auf der rechten Seite.

    Drei leere Betten gegenüber.
    Sie trat auf das erste Bett an der rechten Seite zu.
    Ein kleiner Junge lag dort, mit geschlossenen Augen. Ein Junge, kaum älter als Zinni. Mit blasser Haut und blassen, blonden

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