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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Lidern.

    Sie sah ihn an, und er atmete hastig ein.
    »Kind, Kind! Das gehört sich nicht. Nun sei brav und gib sie mir wieder. Vorsicht, du wirst sie noch zerbrechen.«
    Die Hände, die auf seinen verschränkten Armen lagen, zuckten leise. Aber sie hoben sich nicht.
    Mina betrachtete die Brille. Die Gläser waren so dick, was für ein Gewicht mussten sie auf einem Nasenrücken sein, jahraus, jahrein. Sie versuchte, hindurchzusehen, in den Raum hinein. Alles war verzerrt und verkrümmt, missgestaltet. Nur die stählernen Apparaturen und die blanken Metalltische leuchteten hervor, gerade, scharfe, machtvolle Linien.
    Sie blinzelte und ließ die Gläser sinken. Ein neues Geräusch, ganz sacht, ganz nah. Eine Stimme, die nicht seine war. Eine Stimme; nein, zwei. Zwei Stimmen, die gemeinsam sprachen. Für sie allein, hinter ihrer Stirn.
    Mina. Kleine Schwester.
    Komm. Es ist Zeit.
    Mina erschauerte. Obwohl die Stimmen nur in ihrem Kopf sprachen, hatten sie eine Richtung. Sie kamen nicht von der kleinen weißen Tür, zu der sie unwillkürlich sah.
    Sie kamen von draußen.
    Etwas raschelte, wie von großen Schwingen, die sich reckten.
    Mina ließ die Brille fallen. Vielleicht war es Absicht; vielleicht nicht. Die Gläser zersprangen auf dem harten Boden in hundert glitzernde Stücke. Vorsichtig stieg sie darüber weg, ohne sich nach dem Doktor umzusehen.
    »Mina!«
    Er kam hinter ihr her, stieß sich an den Metalltischen
dabei. Unter der Wäschestärke des Kittels roch sie seinen Schweiß.
    »Wilhelmina, bleib auf der Stelle stehen! Was erlaubst du dir!«
    Die Wut in seiner Stimme war nichts gegen das brandrote Tosen in ihr. Sie riss die kleine Tür auf, zu dem Zimmer, das immer noch so still war. Keine der drei Gestalten hatte sich bewegt.
    »Ah, ist es das, was du sehen willst, ja? Denkst du wirklich, du bist ihretwegen hergekommen? Du selbst bist es, die dich hergebracht hat, du selbst und das, was in deinem Kopf nicht stimmt!«
    Er gestikulierte an ihr vorbei zu den Betten hin.
    »Sie waren schon zu alt, als deine Eltern es endlich einsahen. Zu alt und zu verbissen in ihr krankhaftes Verhalten. Ich habe viel für sie getan, alles, was damals möglich war. Die wirren Geschichten, die sie erzählten, der Eifer, mit dem sie daran glaubten, an ihre eigenen, widernatürlichen Hirngeburten! Große Bäume sahen sie, wo Häuser standen, sie redeten mit Elfen in den Büschen! Es war unerträglich für deine armen Eltern.«
    Wie weh es tat. Wie furchtbar weh.
    Der Doktor bemerkte es nicht.
    Er hatte den Kopf zur Seite gelegt, als müsste er Mina genau betrachten. Sein nervöser Atem hatte sich etwas beruhigt. Und die kleinen, geäderten, wässrigen Augen sahen sie aus ihren tiefen Winkeln heraus unverwandt an.
    »Unerträglich für deine Eltern. Auch deinetwegen. Gerade deinetwegen. Das solltest du allmählich begreifen. Ich habe sie hierhergebracht, um eure Familie zu retten. Um dich zu retten, Wilhelmina.«

    Mina biss sich auf die Lippe. Sie wartete auf das schwere Niedersinken des Steins in ihrem Magen. Auf die Schuld, die sie zu Boden drücken würde. Machte sich bereit, dagegen anzukämpfen. Mit welchen Mitteln auch immer.
    Aber sie fühlte es nicht. Da war nur, hinter dem Zorn, jene sonderbare Leichtigkeit, die sie aus den Höhlen der Unterirdischen mitgebracht zu haben schien. Und in der Überraschung, dem grenzenlosen Erstaunen, bildete sich ein einziger, wasserklarer Gedanke in ihr: Aber ich war ja niemals in Gefahr …
    Sie blinzelte, spürte verwirrt diesem Gedanken nach. Niemals in Gefahr bei ihnen, selbst damals nicht, im Garten mit der Schlange. Denn es war - sie verstand es erst wirklich, während sich die Worte in ihr bildeten - es war doch ein Schlangenkönig, nicht wahr? Dieser große, glänzende, goldglänzende Leib … Ein Schlangenkönig, wie auf der Wiese. Ich konnte mit ihm sprechen. Und sie - sie konnten es auch … Wollten ihn mir nur vorstellen, vielleicht zeigen, wie wunderschön seine Schuppen schimmern und wie seine Krone glitzert. Keine Gefahr, niemals; und ich … Sie atmete tief ein, spürte vergessene Gefühle in sich aufsteigen. Hörte weit entfernt den kurzen Schrei der kleinen Mina, die zum ersten Mal die Finger auf einen warmen Schlangenkörper legte. Nein, dachte - wusste - fühlte sie. Nein, ich hatte niemals Angst. Wovor hätte ich mich denn fürchten sollen? Meine Brüder waren bei mir. Meine großen Brüder.
    Etwas sprang in ihr, hart, mit scharfem Sirren, wie eine straff gespannte

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