Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
für dieses Gefühl. Und in dem Moment, als sie den Namen fand, öffnete es in ihrem Kopf eine glutrote Blüte, und das Blut begann, in ihren Adern zu dröhnen.
    Zorn.
    Es trieb sie in den großen Raum zurück. Behutsam schloss sie hinter sich die kleine Tür, aber sie legte den Riegel nicht wieder vor. Sie zog den Stuhl an den Sekretär, setzte sich, starrte die Federzeichnung an, die ihr aus den Händen geglitten war und jetzt ganz oben auf den papiernen Fächern lag.
    Vielleicht zitterte sie so sehr. Aus einem der Fächer im oberen Teil des Sekretärs fiel ein kleines, ledergebundenes Journal heraus, das nur lose dort gesteckt haben musste. Es traf beinahe Minas Finger, und von selbst öffnete es sich an der Stelle, wo das Lesezeichen eingelegt worden war. Ein Kalendarium, voller Eintragungen, in derselben steilen Männerschrift wie auf der Federzeichnung. Auf dem Blatt unter dem Lesezeichen stand:
    Sonntag, 14. Mai 1913. Konfirmation von Ranzau, W.
    Die Worte unter dem Datum waren mit einem schrägen, ärgerlichen Federstrich durchgestrichen worden.
    Mina strich mit dem Finger über das Blatt. Und fühlte nichts dabei. Sie klappte das Kalendarium zu. Verschob den Stuhl so, dass er zur Außentür sah. Dann setzte sie sich. Und wartete auf den Doktor.

    Das Licht hatte gebrannt, obwohl es noch immer mitten in der Nacht sein musste; er konnte nicht für lange fortgegangen sein. Aber Mina würde auch bis in den Morgen warten. Sie saß da und starrte blicklos in den freundlichen Raum, auf die metallene Tür; und alles, was sie hörte, war das Rauschen ihres Blutes und das schwache Pingeln der Tropfen, die von ihrem Hemd auf den Boden fielen. Das Zittern, das jetzt durch all ihre Glieder lief, verursachte nicht das leiseste Geräusch. Lautlos drehten und wanden sich die glühenden Ranken in ihr.
    Er kam gebückt durch die Tür, trocknete sich die Hände am blendend weißen Kittel. Als er sie sah, zuckte er zusammen.
    Aber der Doktor hatte sich schnell wieder im Griff. Er ließ die Tür hinter sich zufallen, verschränkte die Arme vor der Brust. Musterte sie schweigend, durch die glitzernden Brillengläser; ihre schmutzigen Füße, ihre bloßen Arme, das feuchte, zerdrückte Unterkleid. Wie ein Lehrer, der darauf wartet, dass der missratene Schüler von selbst seine Sünden bekennt.
    Seine Stimme dröhnte zwischen den Steinwänden, als er endlich sprach.
    »Du bist also wiedergekommen.«
    Sie nickte nicht; sie schüttelte nicht den Kopf.
    Er schien es für Schwäche zu halten, Ratlosigkeit, Verwirrung. Ein schmales Lächeln zerschnitt sein Gesicht. Seine Zähne glänzten.
    »Das ist gut, Wilhelmina. Das ist sehr gut. Wenn du vielleicht auch einen etwas ungewöhnlichen Zeitpunkt dafür gewählt hast. Und einen ungewöhnlichen Ort. Von deinem … Aufzug einmal ganz zu schweigen. Aber das mag
alles zu deiner Krankheit gehören. Der Schritt zur Erkenntnis«, sagte er, viel zu voll und klingend für ein Publikum, das nur aus einem stillen Mädchen bestand, »ist immer der schwerste. Es ist gut, dass du zurückgekommen bist. Du wirst noch lernen, es auch auszusprechen.«
    Minas Mundwinkel zuckten schwach. Nein, dachte sie, das werde ich kaum.
    Er erkannte es nicht, ihr Lächeln, ihre Antwort. Sie musste verloren auf ihn wirken, nah am Weinen, denn er machte ein paar Schritte auf sie zu, bevor er abrupt stehen blieb. Nicht zu nah, nein. Nicht zu nah. Und auch das schmeckte in ihrem Mund nach Lächeln.
    »Ich werde«, sagte er, »vergessen, was geschehen ist. All den Unsinn, mit dem du versucht hast, mich anzugreifen. Das letzte Mal, im Garten. All deine Widersetzlichkeit, die ganze Zeit über, die ich dir doch nur helfen wollte. Du bist noch sehr jung, und sehr verängstigt. Ich verstehe das. Und ich vergebe dir, obwohl du wohl geglaubt hast, mich damit wirklich verletzen zu können. Vielleicht …« Er trat noch etwas näher, »wolltest du mich in deiner Vorstellung sogar töten?«
    Er zwinkerte mit einem Auge. Das andere blieb starr auf sie gerichtet.
    »Armes Mädchen. Armes, armes krankes Mädchen. Deine lieben Eltern werden erleichtert sein zu erfahren, dass du endlich wohlbehalten unter meinen Fittichen angekommen bist.«
    Sein Arm in dem weißen Kittel streckte sich ihr entgegen, eine weiche, einladende Kurve. Für einen Augenblick konnte Mina den glatten, kühlen Stoff fühlen, wie er sich an ihre Wange schmiegen würde, wenn sie sich gegen seine Brust
lehnte; die Wäschestärke in den Fasern riechen. Es war ein

Weitere Kostenlose Bücher