Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
nicht weh!
Sie hörte das Ächzen, das durch das Glashaus ging, so dumpf, wie aus den Tiefen der Erde, genau in dem Augenblick, als die Tür endgültig aus dem Gleichgewicht geriet. Als der Schlüssel aufblinkte unter den tausend Reflexionen, die ihn trafen, als die Zeit einen Satz machte und die Tür nach innen stürzte, im Fallen noch zerschellte, und das
Wasser des Schwanenteiches den goldenen Schimmer verschluckte.
Ein Dröhnen, laut und entsetzlich. Ein Knall, der die Luft zerfetzte. Das Schwanenhaus barst in einem tosenden Sturm, explodierte in die Dunkelheit, und unter Mina schwankte der Boden.
Herrgott, oh Herrgott … Sie kauerte sich zusammen, betäubt vor Entsetzen.
Aber aus dem Schrillen des Glases, dem Kreischen des Metalls stieg ein neues Geräusch auf in die Nacht. Ein weißes, sternweißes Rauschen. Mina hörte es, ganz schwach und ganz deutlich unter dem Schreien des Schwanenhauses - ein weißes Rauschen, das anschwoll. Anschwoll, bis das Prasseln der Scherben in einem Flüstern verklang; bis das Krachen der Eisenstreben in einem fernen Donnern verhallte; bis es jedes Geräusch umfasste, selbst die Stille und Minas bebende Atemzüge, bis sie es fühlen konnte, tief unter der Haut, und wusste, woher es kam.
Aus dem scherbenspiegelnden Wasser, aus dem geborstenen Eisengerippe flogen die Schwäne auf, alle zugleich. Die Nacht atmete Flügelschlag. Dutzende leuchtende Leiber erhoben sich in den Himmel, mehr, viel mehr, als das Schwanenhaus je hätte halten können. Atemlos starrte Mina zu ihnen auf, wie in eine riesige, bewegte, schimmernde Wolke. Höher und höher stieg sie empor, blendend vor der schweigenden Dunkelheit. Kreiste, drehte sich um sich selbst.
Kleine Schwester …
Ruckartig hob Mina den Kopf, aber was sie hörte, war nur die Stimme des Doktors, heiser, beinahe tonlos:
»Du dummes Ding. Was hast du getan …«
Er hatte sich zusammengekauert wie sie unter dem tödlichen Regen, jetzt richtete er sich langsam auf. Erst als sie in seine Richtung sah, entdeckte Mina den einen Schwan, der nicht mit den anderen aufgestiegen war. Es war das junge graue Tier, und es reckte die kurzen Flügel vergebens nach den Großen am Nachthimmel.
Auf wackeligen Schwanenbeinen, die nicht zum Gehen gemacht waren, tapste es auf dem Rasen umher. Aber der junge Schwan war nicht der Einzige, der sich bewegte. Schwarzzottelig regte es sich plötzlich überall im verwüsteten Garten. Die Hunde trotteten aus allen Richtungen herbei, die Köpfe gesenkt, die spitzen Ohren angelegt. Sie hielten auf den Jungen zu, auf den kleinen Schwan; und auf Mina.
Sie biss die Zähne aufeinander. Verdrängte den grausamen Schmerz. Machte sich bereit, das Letzte, was an Kraft noch in ihr steckte, tonlos und gellend zu rufen, dass es bis zu den Sternen hallte.
Aber es war nicht ihr Schrei, der die gespannte Stille zerriss. Er fiel aus der kreisenden, leuchtenden Wolke am Himmel, schärfer noch als der Regen aus Scherben. Hoch oben zog die Wolke sich enger zusammen. Kreiste schneller und schneller, ein Wirbeln, Schäumen, Strudeln aus Weiß. Stieß aus der Dunkelheit herab, in einem wilden, gewaltigen Brausen, unter dem die Erde erzitterte.
Die Hunde bellten wie rasend, der Doktor brüllte auf.
»Ich wollte nur helfen, immer nur helfen! Undankbares, unverständiges, verrücktes Gezücht! Nur helfen!« Ganz kurz sah Mina noch sein Gesicht, die aufgerissenen, blassen Augen, das blinde Entsetzen. Als die weißen Federn den
Garten füllten, große, schlagende Flügel, zuschnappende Schnäbel, wandte sie sich ab.
Auf allen vieren kroch sie zu dem Jungen, zog ihn auf ihren Schoß, drückte ihn an sich, wie Lilja Zinni drückte, während sengende Pein ihre Arme hochschoss.
Es ist gut, murmelte sie stumm in das ausdruckslose Kindergesicht. Es ist gut, hab nur keine Angst. Keine Angst, kleiner Kerl. Kleiner Peter. Sie presste seinen Kopf gegen ihre Brust.
Die Schwäne jagten die Hunde durch den Garten. Überall rauschte und brauste es unter ihren Flügelschlägen, das schmerzvolle Heulen und Jaulen biss in Minas Brust. Der Doktor kreischte, irgendwo im Schwanensturm, unter rot verfärbten Federn und Schnäbeln. Mina hörte es wohl. Hörte, wie es anstieg, wie es schriller und schriller wurde. Wie es brach, als es kaum noch nach einem Menschen klang. Wie es schließlich abriss.
Sie hörte es. Aber sie blieb sitzen.
Irgendwann war es vorbei. Irgendwann regte sich nichts mehr im Garten, und die leuchtende Wolke sammelte
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