Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
Saite über einen Geigensteg. Und stockend, zögernd wagte sie, weiterzudenken:
    Keine Gefahr, damals. Und keine Angst. Es ist nicht wahr, was der Doktor gesagt hat. Es ist alles nicht wahr.

    Sie sind nicht meinetwegen hier. Sie können es nicht sein. Denn er hat sich auch andere geholt. Andere Kinder. Von der unglücklichen Tante. Und wer weiß, woher noch. Kinder wie sie, wie meine Brüder. Kinder wie mich.
    Er ist ein Lügner.
    Nichts von dem, was er sagt, ist wahr.
    Ein einziges Mal noch, kurz wie ein hastiger Wimpernschlag, regte sich die Angst in ihr. Zuckte hoch, versuchte, nach ihr zu beißen.
    Sie sind doch hier, in dieser Anstalt, zischte sie ihr zu, und du bist hier. Wie kann es da nicht die Wahrheit sein, was er denkt? Wie kannst du es denn … beweisen?
    Sie fühlte das Wogen der Felder in sich. Das Rauschen der Bäume, das Träumen des Wassers. Die Luft, die sich zum Wind verschlang.
    Ich, dachte sie, und ihre Wangen schmerzten, so sehr lächelte es in ihr, ich brauche nichts zu beweisen. Ich bin Mina. Mina, die den Wald rufen kann. Und die Feenblumen. Mina, die mit Schlangenkönigen spricht. Mina, die die verfluchte Tänzerin befreit hat und den wilden Pug. Ich habe am Brutsee gestanden und bin nicht vor Kummer vergangen. Ich habe das rote Pferd geritten. Ich bin verwirrt und zerstoßen und zerschlagen, und trotzdem stehe ich hier, ohne Schuhe und im Unterrock. Ich …
    Ich bin Mina.
    Und ich bin nicht verrückt.
     
    Der Doktor redete weiter, irgendetwas. Wie ein ferner Regenschauer, der über Kies niedergeht. Mehr war es nicht. Sie achtete nicht auf ihn. Sie starrte auf die Betten hinunter, in die beiden leeren Gesichter. Dachte an die Macht, die in
der Erde wohnte. Das Leben, das in ihr steckte, pochend, bebend, leuchtend. Ein einziges Erdkörnchen nur, auf diese bleichen Stirnen gelegt … War es nicht möglich? Musste es nicht möglich sein?
    Mina , sagte es von draußen, in ihrem Kopf. Mina, nicht. Zwing nicht das in die leblose Hülle zurück, was endlich frei sein will, nur weil du es kannst. Es ist Zeit, kleine Schwester. Aber nicht dafür.
    Die Stimme des Doktors brach in ihre Gedanken ein, schrill, aufgeregt. Nichts, was sie bisher getan hatte, schien ihn so sehr zu verwirren wie ihr blankes Desinteresse an ihm.
    »Ich habe«, sagte er, »immer nach allen wissenschaftlichen Regeln gearbeitet. Nur waren sie damals eben noch weniger ausgereift als heute. Es war mein erster Versuch, und ich glaubte, nun, vor allem, da es Zwillinge sind …«
    Er schmeckte den klinisch kalten Ton wohl, der sich in seine letzten Worte gestohlen hatte, stockte; sprach dann wieder so warm und volltönend wie früher, wenn er an ihrem Bett gesessen hatte.
    »Ich wollte ihnen immer nur helfen. Sie befreien von ihrem schrecklichen Leid. Ich bin Wissenschaftler, ja. Aber ich habe auch ein Herz, mein Kind. Ein Herz voller Mitgefühl. Was glaubst du«, er seufzte schmerzlich auf, »wie es mich gequält hat, sie so liegen zu sehen. Wie ich um sie gerungen habe! Wie es mich bekümmert hat, als ich einsehen musste, dass nichts fruchten würde. Ein Herbstabend war es, ich erinnere mich noch genau. Und ich ging hinaus auf die Wiesen hinter dem Haus, mit schwerem Herzen. Dort gibt es einen kleinen Weiher, weißt du. Ich setzte mich auf die Bank an seinem Ufer, sah auf das Wasser, um wieder
einen klaren Kopf zu bekommen. Und weißt du, was ich dort sah? Zwei Schwäne trieben über den Weiher. Den Weiher, der doch viel zu klein war für sie! Sie mussten sich dorthin vor den Fischernetzen und den lauten Menschen geflüchtet haben. Ich rettete sie, indem ich sie einfangen ließ, und für sie ließ ich das Glashaus errichten. Aus Mitgefühl, Wilhelmina. Demselben Mitgefühl, das ich immer für deine Brüder empfand. Sie taten mir so unendlich leid in ihrem Wahn.«
    Mina sah ihn an, die kleinen Augen, in denen Tränen schwammen.
    Nicht leid genug, dachte sie. Nein. Nicht leid genug. Wenn du überhaupt weißt, was das bedeutet.
    Aber du weißt es, kleine Schwester.
    Der Gleichklang der beiden Stimmen erfüllte ihren Kopf.
    Ja … nein, antwortete sie tonlos und stockend; dachte an Marthe, an die gläsernen Tränen, die sie dem Pug gegeben hatte. Ja, aber wie kann ich … wie kann ich denn … nicht tun, was getan werden könnte? Es ist so viel Schönes da draußen, ihr habt es gesehen … Ihr könntet es wiedersehen. Ich könnte euch helfen! Ich könnte euch heilen!
    Das , sagten die Stimmen ruhig, hat er auch immer geglaubt.
    Mina

Weitere Kostenlose Bücher