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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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sich erneut am Himmel. Ein letztes Mal kreisten die Schwäne. Dann bildete sich ein langer, weißer Keil vor den Sternen; und wie in einem einzigen Flügelschlag waren sie verschwunden.
     
    Erst als sie fort waren, als Dunkelheit und Stille zurückkehrten und nur der Nachtwind sich noch am Himmel bewegte, nahm Mina die Lichter wahr, die überall im Haus die Fenster erhellten, und die Gesichter, die hinausstarrten.

    Es würde nicht lange dauern, bis die ersten Pfleger sich in den Garten wagten. Zu ihr, zu dem Jungen. Zu den reglosen Hundekörpern und zu dem, was wie ein Bündel Lumpen auf dem blutigen Rasen lag.
    Mühsam versuchte sie, auf die Beine zu kommen, ohne den Jungen loszulassen. Sie taumelte, schwankte, musste ihn sinken lassen. Wäre selbst rücklings gestürzt, wenn nicht etwas, das weich und zugleich fest war, sich von hinten gegen ihre Schulter geschmiegt hätte.
    Nicht alle Schwäne waren an den Himmel zurückgekehrt.
    Sechs Tiere standen im Gras, hinter ihr, neben ihr. Standen ganz still und schauten sie an. Der kleine graue Schwan, und fünf weiße. Zwei von ihnen trugen seltsame Bündel aus Papier in den Schnäbeln; Mina starrte sie an und erkannte erst spät, dass es die Waisenhausakten sein mussten, die sie aus dem Bündel geschüttelt hatte. Ein anderer hielt den Selam auf die gleiche Weise gepackt. Sie mussten sie für Mina aufgesammelt haben, während sie noch auf dem Boden kauerte.
    Die zwei größten Vögel waren die, die ihr am nächsten standen. Sie berührten, mit ihren warmen Leibern und ihren kühlen Federn, in denen ein Flüstern zu hängen schien. Sie brauchte nicht nach ihren Flügeln zu sehen. Sie wusste, wer sie waren.
    Mina sah die beiden großen Schwäne an. Sie beugten die langen, schlanken Hälse und legten ihre Schnäbel gegen ihre Wangen, rechts und links.
    Johann, sagte sie stumm. Heinrich.
    Es kam keine Antwort. Langsam, zitternd, atmete sie aus.
    Der graue Schwan tapste an ihr vorüber, die kurzen Flügelchen
gereckt. Zu dem Jungen, der da lag, wie Mina ihn hatte sinken lassen. Vor seinem Gesicht hielt er an, senkte den langen Hals, streckte den Kopf vor. Der breite, schwarze Schnabel schob sich zwischen die hellen Haarsträhnen. Flaumfedern legten sich auf die Kinderwange. Der junge Schwan machte ein eigentümliches, raues Geräusch, tief unten in seiner Kehle.
    Und blieb so stehen.
    Mina sah auf den Schwan und das Kind. Hörte das leise Rascheln der Federn dicht bei sich, fühlte die seidige Glätte auf ihrer Haut. Roch den Nachthauch, den freien wilden Wind, den sie schon in sich aufgesogen hatten, hoch oben am Himmel, wo es keine Enge gab, keine Fesseln, keine Schmerzen. Spürte ihre Wärme. Nähe.
    Vertrauen …
    Einen Moment lang war ihr, als lauschte sie bis tief in das Haus hinein. Nach unten, in einen kleinen Raum mit sechs weißen, regelmäßigen Betten, in denen nur noch zwei Gestalten lagen. Er enthielt nichts mehr. Nichts mehr, außer Stille.
    Die großen weißen Schwäne lösten sich von ihr. Sie versuchte nicht, sie festzuhalten. Richtete stattdessen den Blick starr auf den Jungen und auf den kleinen Schwan, der noch nichts vom Himmel wusste und vom Wind. Öffnete die Augen weit.
    Noch weiter.
     
    Peter lag im Gras und blinzelte. Dann hustete er, wimmerte, ganz schwach. Bewegte die Glieder, ein Bein, einen Arm.
    Der kleine graue Schwan war verschwunden.

Die großen Tiere halfen ihr aufzustehen, stützten sie mit den Flügeln, sie und Peter, der auf steifen, hölzernen Beinen taumelte. Sie folgten ihr ins Haus, durch den Flur, in den sich noch niemand hinuntergewagt hatte. Auf der Treppe nach unten raschelten ihre Federn gegen den Stein, und ihre breiten Füße klatschten auf den Stufen. Peter schauderte und wimmerte wieder, als sie im Keller angekommen waren.
    Blut lief Mina die Arme hinunter, tränkte ihr Unterkleid, während sie unter Schmerzen den Jungen durch das Loch im Lagerraum schob.
    Sie wusste nicht, wie sie den Weg fand, zurück durch die Dunkelheit, durch den Staub und das Wispern der Felsen. War sie es überhaupt, die sie führte, oder waren es die Schwäne, die das Wasser der Taterkuhle witterten, irgendwo, weit vor ihnen? Riefen die Unterirdischen nach ihnen, wiesen ihnen mit ihren uralten Stimmen den richtigen Weg? Plötzlich und lautlos waren sie da, und die Wände fingen an zu funkeln. Grau mischte sich zwischen die Schwanenfedern. Das Raunen begann, und wie Liljas helfende Salben schien es den tobenden Schmerz in Minas
Armen zu lindern.

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