Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
spürte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann.
Ich habe so lange nach euch gesucht, dachte sie, mit einem Flehen, dessen scharfe Kanten ihr Herz zerschnitten. Ich habe euch vermisst, fast mein ganzes Leben lang, ohne es zu wissen. Jetzt habe ich euch gefunden. Wie kann ich euch gehen lassen? Wie kann ich zulassen, dass ihr hier unten bleibt, dass ihr hier … sterbt?
Mina, kleine Schwester. Denk nicht an den Tod. Denk an das Leben, das oben wartet. Steig auf, steig hinauf. Es ist Zeit.
Nein, bettelte sie stumm. Nein, nein!
Aber sie sah die Schwäne vor sich, oben, hinter dem Glas. Die weißen Hälse, die dunklen Augen. Die beiden Flügel mit den schwarzen Malen darauf.
Und den kleinen grauen Schwan. Das Küken, das noch nicht ausgewachsen war.
Sie hob die Hand, strich über ein stilles, kaltes Gesicht. Dann über das andere. Die ungeweinten Tränen füllten ihre Augen mit trockenem, bitterem Salz.
Sie nickte schließlich; ein einziges Mal.
Ohne seine Brille war der Doktor viel zu langsam für sie. Sie ging einfach um ihn herum, wich seinem Griff mühelos aus. Der kleine Junge in seinem Bett - wie leicht er war, als sie ihn aufhob. Seine Lider flatterten, als sie ihn in beide Arme nahm. Aber sie öffneten sich nicht.
»Wilhelmina, was tust du da! Bleib stehen, sofort!«
Die Stimme des Doktors überschlug sich. Er griff wieder nach ihr, verfehlte sie erneut, als sie sich wegdrehte.
Sie ging an ihm vorbei, ohne sich noch einmal umzusehen nach den beiden anderen Betten; sie hätte es sonst nicht gekonnt. Er folgte ihr aus dem kleinen Zimmer, stieß dabei gegen die Wand, den Türrahmen. Als die Tür hinter ihnen zuschlug, hallte das Geräusch durch Minas ganzen Körper.
Mit Peter auf den Armen ging sie in das Studierzimmer hinüber. Durch die nächste Tür. Stieg auf die ersten steinkalten Stufen. Gefolgt vom plappernden, stolpernden, taumelnden Doktor, stieg Mina die Treppe hinauf. Nach oben, zum Schwanenhaus.
Der weite Nachthimmel empfing sie draußen, hinter dem schlafenden Haus. Keine einzige Wolke lag über den Sternen. Das klare, stille Licht spiegelte sich in den Scheiben.
Die Schwäne dahinter bewegten sich nicht. Dicht an dicht drängten sie sich auf dem künstlichen Teich. Mina konnte nicht erkennen, welche es waren, die die schwarzen Male auf ihren Flügeln trugen. Es spielte keine Rolle.
Sanft ließ sie den Jungen auf den Rasen sinken. Er rührte sich nicht, seine Glieder fielen lose nieder. Aber für einen kurzen Moment schien es so, als ob die geschlossenen Lider bebten, während die Nachtluft über sie hin strich.
»Wilhelmina.« Der Doktor hatte mit Mühe die Stimme wieder gesenkt, noch im Flur. »Wilhelmina, was willst du denn hier. Lass doch den Tieren ihre Ruhe.«
Ohne auf ihn zu hören, tastete Mina die Scheiben ab, die Einfassungen, die sie hielten. Hier … hier schien es Scharniere zu geben. Und etwas weiter nach unten … eine winzige, geschwungene Klinke und ein Schlüsselloch dabei. Sie zog an der Klinke. Die kleine, gläserne Tür bewegte sich nicht. Nur die Schwäne wandten die Köpfe, alle zugleich. Und sahen sie an.
»Sie ist verschlossen, natürlich ist sie das. Was dachtest du denn? Mädchen, nimm endlich Vernunft an.«
Sie beachtete ihn nicht. Einen Augenblick stand sie da, lauschte in sich hinein; hoffte vielleicht auf die Stimmen.
Aber die Antwort, die in ihr aufstieg, kam nicht von ihnen. Sie kam aus dem Holunder, der hinter ihr im Nachtwind säuselte.
Das rote Pferd. Der Sprung durch den Baum. Und Liljas Bündel, das ihr aus den Händen fiel. Liljas Bündel, mit dem Selam darin. Den Akten.
Und dem Schatz des Schlangenkönigs.
Sie rannte nicht, aber sie bewegte sich schnell. Forschte mit den Augen zwischen den Zweigen. Fand die schwärzere, dichtere Stelle, dort, wo das Bündel immer noch hing, unentdeckt in all dem Tumult, den ihre Flucht verursacht hatte. Auf den Zehenspitzen und mit weit gestreckten Armen gelang es ihr, es herunterzuziehen.
Der Schlüssel schimmerte auf ihrer Handfläche, blassgolden unter den Sternen.
Jetzt lief sie doch, zurück zum Schwanenhaus, den Schlüssel in der rechten, das Bündel mit der linke Hand gepackt.
»Wilhelmina, was hast du da, was ist das? Was sind das für Lumpen?«
Mit fliegenden Fingern schob sie den Schlüssel ins Schlüsselloch. Er sträubte sich nicht, glitt ganz leicht hinein. Sie fasste das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger. Drehte es mit angehaltenem Atem.
»Kind, du machst dich doch
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