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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Augen. Versuchte herauszufinden, von welcher Seite sie ins Feld hineingegangen war. Die gelben Blüten schmiegten sich eng aneinander. Sie musste schon lang den Ackerpfad verlassen haben; hier sah sie nicht einmal mehr Spuren davon. Nur Raps, Raps auf allen Seiten. Und leises, fernes Bienengesumm.
    Sie seufzte tief. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als weiter voranzustapfen. Irgendwann musste das Feld ja enden, und dann würde sie sich wieder orientieren können. Rapsfelder waren nie besonders groß. Sie wusste, das Öl, das die Pflanzen hergaben, war bitter wie der Geruch und konnte einem den Magen verderben. Es lohnte sich also kaum, sie anzubauen. Mina lächelte schwach, als sie sich daran erinnerte. Solche Dinge brauchten wohlerzogene Mädchen sich eigentlich nicht zu merken, wenn sie sie zufällig aus Gesprächen zwischen dem Vater und seinen Pächtern heraushörten. Aber wie hatte Mademoiselle einmal gesagt? Die Frau des Hauses sollte immer mehr wissen, als sie unbedingt zu wissen braucht. Sie darf es sich nur niemals anmerken lassen.
    Dieses Rapsfeld schien sich nicht an die Regel zu halten. Es wollte kein Ende nehmen. Und unter dem gelben Blütenschaum waren die Pflanzen miteinander verflochten; sie kam immer langsamer voran, je tiefer sie in das Feld hineinging, und ihre Hände fingen an zu jucken und zu brennen von den faserigen Stängeln, die sie beiseitezerren musste. Und nirgendwo ein Weg zu sehen oder ein Knick voller Büsche und schlanker Bäume, der die Grenze zum nächsten Feld anzeigte. Sie ging durch das Rapsfeld, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt, und der bittere Geruch und die stechende Sonne machten ihr Kopfschmerzen.

    Dann fand sie die Drossel. Sie trat beinahe darauf, auf den zarten, verdrehten Körper, den kleinen Kopf mit den gebrochenen Augen. Der Vogel hatte im Sterben die Flügel zwischen den hohen Pflanzenstängeln weit ausgebreitet, so dass es aussah, als ob er sich zum Fliegen bereitmachte.
    Mina sank in die Knie, und der Rapsgeruch hüllte sie ein. Sie beugte sich vor und hauchte gegen die starren Federn, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Selbst die dicken Tränen, die ihr ganz von allein über die Wangen rollten, rührten das stumme kleine Herz nicht mehr. Und trotzdem hörten sie nicht auf zu fließen. Der tote Vogel verschwamm ihr vor den Augen.
    Sie wusste nicht, was es war, das sie schließlich innehalten ließ. Vielleicht geschah irgendwo im Feld eine Bewegung, die sie mehr fühlte als sah. Vielleicht trug der schwache Wind unter dem bitteren Dunst des Rapses allmählich einen neuen Geruch zu ihr, wilder, stechender. Die Augen noch immer voller Tränen, hob Mina langsam den Kopf.
     
    Der Hund stand nicht weit von ihr, mitten im Feld. Und er stand sehr still. Wenn er nicht so groß gewesen wäre, dass sein Kopf die niedrigeren Rapspflanzen überragte, hätte sie ihn für einen dichteren Mittagsschatten zwischen den Stängeln halten können, so schwarz war sein Fell. Und wenn sie seine Augen nicht gesehen hätte, dann hätte sie vielleicht glauben können, dass es der arme, kleine Vogelkörper war, der ihn angelockt hatte. Aber es war Mina, die er anstarrte. Mina allein. In dem Moment, als ihre schwimmenden Augen seinen Tierblick trafen, wusste sie, dass er ihretwegen gekommen war.
    Und es war keiner der Hunde vom Gutshof.

    Sehr langsam stand Mina auf. Die wirbelnden Gedanken in ihrem Kopf verblassten, verschwanden. Sie achtete noch darauf, nicht auf den Vogel zu treten; mehr dachte sie nicht. Sie fühlte nur wild ihr Herz klopfen, obwohl der Hund nicht bellte oder heulte. Er knurrte nicht einmal. Stand nur da und starrte sie an, ohne sich zu rühren.
    Er würde nicht immer so stehen bleiben. Nicht nur sein Blick verriet es ihr. Er hatte die spitzen, nachtschwarzen Ohren eng an den großen Kopf gelegt und das Maul geöffnet. Seine Zähne waren sehr weiß in all dem Schwarz. Wenn sie sich umdrehte, wenn sie einen einzigen Schritt von ihm weg tat, weiter in das Feld hinein - ein Sprung, und die Jagd würde beginnen. Wieder beginnen. Ihr pochendes Herz erinnerte sich nur zu gut. Und hier gab es kein Wäldchen, in dem sie sich verstecken konnte. Nur den blühenden, schimmernden, stinkenden Raps.
    Sie fürchtete sich so sehr. Etwas in ihr wollte nichts als fortlaufen, ganz gleich, wie sinnlos es war. Sich ducken zwischen den Stängeln und Blüten, Haken schlagen wie ein flüchtendes Reh, jedes Mal neu hoffen, wenn der Hund für einen Moment die Richtung verlor.

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