Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
dass es Mina schauderte. »Ich habe gerufen. Ich habe gesucht. Sie wollten nicht folgen. Sie verschwanden …«, Tante Elisabeth blickte hastig um sich, als fürchtete sie sich vor Lauschern, »eines unter der schwarzen Erde. Das andere hinter den Spiegeln. Sie verschwanden und hörten nicht auf die Mutter, die sie rief. Erst das eine, dann das andere. Benehmen sich so gehorsame Kinder?«
Der riesige Hut zuckte zurück, mit zwei, drei großen Schritten war der Kimono zu den Fenstern geflattert.
»Benehmen sich so«, schrie die Tante gegen die funkelnden Scheiben, »gehorsame Kinder?«
Minas Blick irrte durch das Zimmer. Es gab keine Möglichkeit, schnell und leise zur Tür zu kommen, keinen Ort, sich zu verstecken. Über den Tischchen und Kommoden sahen die beiden Spiegel mit ihren funkelnden Augen in jeden Winkel. Die Spiegel … Hinter den Spiegeln …
Irgendwo unter der namenlosen Angst, die Mina gepackt hatte, regte sich etwas. Das Lichtspiel auf dem geschliffenen
Glas … Es berührte eine Erinnerung. Eine Erinnerung, die noch jung war und ganz oben lag. Mit zitternden Händen tastete Mina nach ihr, aber die Tante hämmerte jetzt mit den Fäusten gegen die Scheibe, und jeder Gedanke verging unter der Furcht.
»Gehorsame - Kinder!«
Sie schlug noch einmal zu, das Glas sang hoch und schrill, dann rannte sie zu einer der Kommoden, die so friedlich und gewöhnlich an den Wänden lehnten, und erst jetzt sah Mina, dass auch hier gefüllte Vasen standen. Sie klirrten gegeneinander, als die Tante anfing, Schubladen aufzureißen.
»Nichts!« Es war schon fast ein Kreischen. »Nichts, nichts, nichts!« Spitzenservietten fielen wie verwundete Tauben zu Boden, Taschentücher, Tischdeckchen. In Minas Brust flatterte ein Wimmern. »Nichts, nichts hier, nur dieser Abfall, und dieses - dieses …« Sie zerrte mit aller Kraft an etwas, das festsaß. Eine Vase kippte um, blitzendes Wasser strömte über die Kommode. Die Tante sah nicht einmal auf. »Dieses - Buch!«
Es flog heraus, blassviolett gebunden. Mit einem dumpfen Pochen landete es vor Minas Füßen. Sie hob es auf, ohne zu wissen, was sie tat; hob es auf, weil man die Dinge aufhob, die den Erwachsenen hinunterfielen, und wie ein kleines, verängstigtes Mädchen streckte sie das Buch der Tante hin.
»Bitte«, wisperte sie, »bitte …«
Tante Elisabeth hielt inne. Ihr Atem ging keuchend, er erfüllte das ganze Zimmer. Der Blütenhut war ihr tief in die Stirn gerutscht. Helle Haare quollen an allen Seiten darunter hervor.
»Rosen«, sagte die Tante, und ihre Stimme klang plötzlich wieder so normal, dass Mina beinahe das Buch aus den Händen glitt. »Er nimmt Rosen sehr wichtig. Der Autor, meine ich. Vielleicht ein bisschen zu wichtig, wenn du mich fragst.«
Eine fahrige Hand kam unter dem Kimono zum Vorschein. Sie schob den Hut nach hinten. Schweiß lief in Bächen über Tante Elisabeths Gesicht. Sie betrachtete das schmale Buch.
»Rosen …« Es war ein Seufzen. »Sie versprechen so viel. Immer zu viel. Keine Liebe auf der Welt ist groß genug, um das Versprechen einer einzigen Rose zu erfüllen.« Ein zweiter Seufzer; die Tante hob den Blick, und ihre Augen wirkten müde und leer. »Nimm es«, sagte sie zu Mina. »Nimm es, Kind. Ich kenne es längst auswendig, jeden Satz. Veilchenzungen. Glockenblumenohren. Sie haben mir nichts genützt. Der Garten schweigt. Sie lassen mich rufen.«
Mina hielt das Buch fest umklammert. Der Einband war schlicht, fest und wirklich in ihren Fingern.
»Wie viele«, fragte sie mit klopfendem Herzen, so behutsam wie möglich, ohne die Tante anzusehen, »wie viele sollten denn … antworten?«
Die Tante starrte vor sich hin. Für einen Moment glaubte Mina, sie hätte sie nicht gehört; wäre längst wieder verschwunden in der seltsamen, entsetzlichen Welt unter dem Blumenhut. Was ihr schließlich antwortete, war nicht mehr als ein Murmeln.
»Bei den meisten Blumen sitzen die Blätter zu Paaren. Nicht immer gerade gegenüber, manchmal versetzt; aber immer zwei und zwei zusammen. Auch bei den Blütenblättern. Sie sind«, die Stimme der Tante kippte und brach, »die
schönsten Blätter, die man sich nur vorstellen kann. So zart, so empfindlich, wenn man darüber streicht. Wie …« Ihre Hand machte eine Bewegung in der Luft. Minas Herz zog sich zusammen, als sie sie erkannte.
»Wie Kinderhaar«, flüsterte sie.
»Wie Kinderhaar«, echote die Tante brüchig. »Aber sie vergehen. So lange, bis der Stängel kahl ist.«
Sie
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