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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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schwerfälligen Bewegungen am Mantel abzuwischen wie ein Dorfjunge. Immer noch kein Taschentuch … Aber der sehnsüchtige Gedanke an die duftenden, gebügelten Spitzentücher mit ihren feinen Kanten und beinahe unsichtbaren Nähten brachte Mina dazu, sich zur Ordnung zu rufen.
    Es war eine Albernheit, den Kopf hängen zu lassen, weil man seine Katze nicht wiederfand. Eine Albernheit, sich zu wünschen, sie wäre da, damit man ihr von der heißen Stille hinter Spiegelscheiben erzählen konnte; von Leere und von Schrecken. Albern wie ein kleines Mädchen, das sich bei seinen Puppen ausweint. Tausendschön hatte sie den Weg zum Dorf geführt; mehr hatte er ihr nicht versprochen. Sie war allein in das Haus ihrer Tante gegangen. Sie würde auch allein zurückfinden.
    Nur … zurück wohin?
    Die Felder waren sehr weit um sie her. Sie hatte geglaubt, das Dorf der Tante läge in der Nähe des Gutshofs, aber der Weg vom Taterlock hierher war lang gewesen. War das Erlenwäldchen weiter vom Gutshaus entfernt als das Dorf? Das kühle, schattige Erlenwäldchen, wo ein blasser Mann am Bach unter der Weide träumte …
    Bring uns Herrn Tausendschön wohlbehalten zurück , hatte Lilja gesagt; Lilja mit den wehenden dunklen Haaren, im
Mittagslicht so unwirklich wie eine Fee. Der Kater war verschwunden. Aber die Einladung, die in den Worten gelegen hatte … Vielleicht galt sie auch so?
    Es war sicher nicht richtig, dass sie von der Straße zwischen die Halme stieg und versuchte, im Feld ihre Spuren wiederzufinden; die Spuren, die sie zum Taterlager führen würden, nicht zum Gutshof. Nicht richtig, den Eltern noch mehr Kummer zu machen, indem sie weiter fortblieb. Aber während sie die Halme vorsichtig auseinanderbog und tiefer in das Feld hineinging, fühlte sie neben dem schlechten Gewissen etwas anderes sehr deutlich: das Frösteln unter der Hitze des Mittags, wenn sie an diese weißen schweigenden Gardinen dachte.
    Sie konnte nicht nach Hause gehen. Noch nicht. Nicht jetzt.
     
    Das Haus der Tante ließ sie nicht los, auch auf den Feldern nicht. Sie versuchte angestrengt, an andere Dinge zu denken, lenkte sich ab, indem sie sich das violette Buch ansah. Auf dem verblichenen Titel stand nur ein einziges, rätselhaftes Wort in geschwungenen Buchstaben:
    Selam.
    Sie konnte nichts damit anfangen, und als sie versuchte, im Gehen darin zu blättern, stolperte sie und zerriss sich beinahe den Kleidersaum. Seufzend schob sie das Buch wieder unter den Arm. Ein überquellender Rosenkorb, blassfarbig gezeichnet auf den ersten Seiten, bevor der Text begann, so viel hatte sie gesehen. Es war wohl auch nichts anderes zu erwarten gewesen.
    Sie gab sich Mühe, an die Tatermädchen zu denken, Rosa und Pipa. Wie kam es wohl, dass Pipa so missmutig war?
Ihre runden Bäckchen sahen so sehr nach Lachen aus. Rot und leuchtend wie Tulpen. Wie Tulpen …
    Mina schüttelte heftig den Kopf, ihre Füße in den engen Stiefeln strauchelten auf dem schmalen Ackerpfad. Nein, keine Tulpen! Kein Blumenmeer hinter spiegelndem Nichts, keine braunen, furchtbaren Erdnarben!
    Aber das Haus der Tante war hartnäckig. Es ließ sich nicht so einfach vertreiben. Die Sonne senkte sich langsam um eine Winzigkeit von ihrem höchsten Punkt, aber die Hitze wurde kaum weniger dadurch, und nun schien sie Mina schräg in die Augen, ließ sie blinzeln und stolpern. Und je müder sie wurde, desto näher rückte ihr das Haus. Und die sonderbaren Worte der Tante. Die sonderbarsten von allen, die sie gesagt hatte.
    Eines verschwand unter der schwarzen Erde. Das andere hinter den Spiegeln.
    Sie verstand, dass das erste Kind ihrer Tante gestorben sein musste. Vielleicht waresdas, was sie so … eigenartig hatte werden lassen. Ein kleiner oder größerer Cousin, an den Mina sich nicht einmal erinnern konnte. Es stimmte sie traurig.
    Aber das andere, das zweite Kind? Was war mit ihm geschehen? Hinter den Spiegeln …
    Das dunkle Halmgrün um sie her war längst einer anderen Farbe gewichen, ohne dass sie darauf achtete; einem scharfen, hellen Gelb, das einen strengen Geruch ausströmte. Er stieg ihr immer stärker in die Nase. Der Geruch war bitter, kaum wie von einer Pflanze; er schmeckte vage chemisch auf der Zunge. Er brachte Mina irgendwann dazu, aufzusehen. Rapspflanzen in voller Blüte umgaben sie, manche fast so hoch wie sie selbst. Sie schienen sich bis zum dunstigen Horizont hinzuziehen.

    Aber sie waren durch kein Rapsfeld gekommen.
    Mina hielt inne, legte die Hand über die

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