Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Aber sie fühlte, er würde sie wiederfinden, immer aufs Neue. So lange, bis die müden Mädchenbeine nicht mehr weiterkonnten.
Etwas anderes in ihr wehrte sich dagegen.
Sie bewegte die Hand langsam, wischte sich die Tränen vom Gesicht. Schob die Finger dann zentimeterweise in die Manteltasche. Schwer hing die Spieluhr im Stoff. Sie tastete nach ihr, hielt dabei den Blick starr auf den Hund gerichtet. Er folgte ihren Bewegungen mit den Augen. Sie umfasste das Kästchen und zog es behutsam heraus. Es war nicht groß, aber größer als das Buch. Größer - und schwerer. Sie
hob den Arm ganz langsam, hielt die Spieluhr fest gepackt. Schwer, ja, schwer war sie. Schwer genug?
Das Sonnenlicht traf auf die Kristallsplitter. Sie sah es nur als Blitzen im Augenwinkel; die Spieluhr schwebte inzwischen über ihrem Kopf. Aber der Hund hob ruckartig den Blick. Einen Herzschlag lang kam es ihr so vor, als ob die Spiegelungen ihn blendeten; er drehte den Kopf hin und her, die lange Schnauze hoch in der Luft. Aber noch immer knurrte er nicht.
Mina machte einen Schritt zurück, ohne den Arm zu senken. Er folgte ihr nicht. Noch einen, und der Hund starrte weiter nach oben, auf das Glitzern, und kam ihr nicht nach. Noch einen; und da bewegte sich etwas in der Luft hinter dem Tier, ein Flirren, wie von der Hitze, aber es hatte Konturen und schwache Farben, die nicht aus dem Raps aufgestiegen waren. Eine schlanke Gestalt, ein blasses Gesicht. Und große grüne Augen, die sie eindringlich ansahen.
Nicht werfen , hauchte der schwache Wind über dem Feld. Wirf nicht die Spieluhr, Mina. Behalte sie bei dir.
Sie spürte das Staunen wie rieselnde Schauer in all ihren Gliedern. Die Gestalt war so dünn, so durchscheinend, sie hätte die Rapsblüten zählen können, die hinter ihr standen. Der Hund starrte weiter auf die Spieluhr in ihrer Hand, als hätte sich nichts verändert, aber Mina sah den Glanz der schwarzen Haarsträhnen über dem Feld so klar wie das dunkle Hundefell. Nur einen Augenblick lang; dann verblasste alles wie Nebel.
»Karol«, wisperte sie. »Karol …«
Sie machte noch einen Schritt nach hinten. Und stolperte. Spürte die Schnürsenkel am linken Stiefel reißen, knickte ein, ließ beinahe die Spieluhr fallen. Im letzten Moment
bekam sie sie wieder zu fassen, dicht vor dem Boden, wo es dunkel war zwischen den Halmen. Der Hund bellte auf. Das Geräusch fraß sich in Minas Kopf. Ihr Körper drehte sich von selbst noch im Straucheln, warf sich herum, weg von dem Bellen. Nur schemenhaft sah sie den breiten, flachen Baumstumpf auf dem Ackerboden, dann spürte sie schon den Stoß, den Schmerz. Ihr Knöchel brannte. Der Hund bellte ein zweites Mal.
»Nicht, Mina, nicht weglaufen!«
Kein zartes Flüstern im Feld, eine klare, hohe Mädchenstimme, ganz in ihrer Nähe. Mühsam rappelte sie sich hoch.
»Nicht weglaufen, er ist viel zu schnell! Komm zu uns, komm in den Wald!«
Es war Rosa, Rosas Stimme, ganz nah. Wirr blickte Mina um sich. Da war doch nichts, nur das Feld …
»Wir sind hier, er ist hier, komm, Mina! Du hörst mich doch, oder?«
Schrill die Sorge jetzt in Rosas Stimme. Und so deutlich, immer noch, als ob sie dicht neben ihr stünde! Und nichts, nichts da! Nur vielleicht etwas wie - ein schwacher, dunkelgrüner Schimmer … Er wellte die Luft über dem Feld. Dort, wo Karol gestanden hatte. Und etwas rauschte, wie von weither.
»Mina, komm, bitte! Hab Vertrauen!«
Vertrauen? In nichts? Aber - Rosas Stimme! Und Karol! Und der grüne Schimmer … So seltsam bewegt. Wie kleine grüne Wellen. Oder wie Blätter im Wind. Gar nicht so weit entfernt von ihr. Zwei, drei Meter vielleicht ins Feld hinein.
Kam nicht auch Rosas Stimme von dort?
Wohin, wohin soll ich denn kommen?, fragte Mina hilflos, stumm, aber vielleicht hörte Rosa sie doch.
»Du bist ganz nah, ganz nah! Renn einfach darauf zu!«
Konnte es wirklich der eigenartige grüne Nebel sein, den sie meinte? Und sah sie denn nicht, dass der Hund genau davorstand? Sollte sie auf den Hund zu rennen? Einfach so, ins Feld? Ins Feld, oder … in was?
Der Hund bellte ein drittes Mal, lauter, schärfer. Dann sprang er, wie ein Blitz aus Schatten. Ein, zwei Augenblicke rasten vorbei, blind, taub in der Geschwindigkeit; im selben Moment rannte Mina los.
Auf ihn zu.
An ihm vorbei.
Er riss den riesigen Kopf herum, verwirrt, schnappte nach ihr mit der gewaltigen schwarzen Schnauze. Sie hörte das scharfe Klicken der Zähne, die aufeinandertrafen, als würden sie
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