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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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verstummte.
    Mina öffnete den Mund, ohne zu wissen, ob sie weinen oder sprechen würde. Aber die Tante winkte müde ab.
    »Lass. Lass, kleines Fräulein. Und geh jetzt zurück zu deiner Mutter. Grüß sie recht schön von mir, willst du das tun?«
    Mina nickte stumm. Die Tante strich sich mit schwerfälligen Bewegungen ein paar Strähnen aus der Stirn.
    »Du bist ein gutes Mädchen, denke ich«, sagte sie und ging wieder zu den Fenstern hinüber. »Geh, lauf nur. Ich«, sie bückte sich, und ihre Hand schloss sich um den schweren Messinggriff des Sonnenschirms, »ich bringe das hier rasch in Ordnung. Kein Grund, Frieda damit zu behelligen. Und Ordnung …«
    »Ja«, sagte Mina. »Ich verstehe schon. Ordnung muss sein.«
    Sie warf einen letzten Blick auf die leuchtenden Beete draußen vor den Scheiben. Sah die braune Erdnarbe sich durch das Strahlen ziehen. Während sie langsam zur Tür ging, hörte sie das Scharren, mit dem ein großes Flügelfenster geöffnet wurde, das Rascheln des Kimonos, der über die Schwelle nach draußen schleifte. Das Zischen der Luft, als der Sonnenschirm in die Höhe gerissen wurde, und vielleicht, vielleicht, ein feines, herzzerreißendes Geräusch, mit
dem Stängel brachen und Blütenblätter zerfetzt zu Boden fielen.
    Kein Dienstmädchen würde kommen, um den Schirm hinterher zu reinigen.

    Mina behielt das violette Buch fest unter dem Arm, so fest, dass die Kanten sich in ihre Rippen bohrten. Wenn sie es fallen ließ, würde sie anhalten müssen, sich hinknien auf dem schmalen Kiesweg, die gardinenblinden Blicke der Fenster im Nacken. Sie gab sich Mühe, nicht zu laufen, ging schnell, aber hoch aufgerichtet, obwohl die Sonne ihr auf den Kopf brannte. Erst am Ende der weiten, kahlen Rasenfläche wagte sie es, anzuhalten und sich umzudrehen.
    Das Haus lag so ruhig in all dem blassen Grün. So friedlich wie all die anderen Häuser im Dorf, die ihre Mittagsträume träumten, durchzogen vom leisen Atmen aus den Schlafzimmern, unter schweren Federbetten, während Fliegen um die Deckenlampen summten. Hausmädchen legten hinter der Wäscheleine den Kopf auf die Knie und dösten; sogar die Mamsell zog in ihrer Kammer die Schuhe aus und nickte über einer angefangenen Einkaufsliste ein. Der Hofhund bettete die lange Schnauze auf die Pfoten. Die Hühner gruben sich im warmen Sand ein Nest. Mittagsträume, überall. Überall, nur nicht hier.
    Mina zog die Schultern zusammen. Sie konnte es kaum
ertragen, die Spitzengardinen hinter den Scheiben zu sehen, die gleichen Gardinen, die zu Hause zwischen den Portieren hingen. Die Stille, die dahinterlag, würde sich nicht in einer halben, einer ganzen Stunde in eiligem Schuhgetrappel auflösen, im ersten, zarten Flöten des Wasserkessels. Sie würde liegen bleiben, Mittag um Mittag.
    Es schnürte ihr die Kehle ein. Aber um nichts in der Welt wäre sie in das Haus zurückgegangen.
    Sie musste sich zwingen, sich nach Tausendschön umzusehen. Ihre Gelenke fühlten sich steif an, wie eingerostet, als sie sich hierhin und dorthin drehte, langsam erst, dann eiliger. Kein schwarzer Flecken zwischen den Halmen, lauernd vor einem vermeintlichen Mauseloch. Kein Aufleuchten von schneeweißen Pfoten im Grün. Der Rasen war leer.
    Er würde sich in den Schatten zurückgezogen haben. Unter den Büschen vielleicht, die am Anfang der Auffahrt standen. Auf dem kleinen Friedhof, wo die hohen Grabsteine fahles Gänsehautdunkel warfen. Unter dem Vordach der Kirche, deren Turm stolz und unbeugsam in den grellen Himmel spießte. Vielleicht war er auch noch weiter zurückgegangen, wartete auf sie auf einer der Türschwellen im Dorf - vor diesem Haus dort, oder vor dem nächsten? Mit immer schnelleren Schritten ging Mina die Straße entlang. Ehe sie es wusste, hatte sie den Dorfrand erreicht. Die Landstraße streckte sich träge vor ihr aus, und von Tausendschön war nichts zu sehen.
    Sie rief nach ihm, flüsternd, schließlich dringlicher. Aber es war nur ein schwacher Lufthauch, wie benommen von der Hitze, der durch die Felder strich. Kein Katerschwanz reckte sich keck zwischen den Halmen in die Höhe.

    Er hatte sie alleingelassen.
    Ein paar Minuten lang blieb Mina einfach stehen und starrte auf den Boden. Sie fühlte sich so müde. So schwach und so verschwitzt. Kleid und Mantel klebten ihr auf der Haut. Ihre Hände fühlten sich aufgedunsen an. Sie waren beinahe zu schwer, um sie hochzuheben; hochzuheben und einen Moment lang hilflos vor sich hinzuhalten, um sie dann mit

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