Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
versuche, dir den Stiefel auszuziehen, bevor du ihn nicht mehr herunterbekommst.«
Minas Blick irrte zu Tausendschöns runden Katzenaugen. Die weißen Schnurrhaare darunter zuckten.
»Kommen Sie, Viorel«, brummte er, »Sie machen die junge Dame verlegen, sehen Sie das nicht? Lassen Sie sie es selbst versuchen.«
Mina sah ihn dankbar an. Viorel zuckte die Schultern.
»Wie Sie meinen. Aber es sollte schnell gehen. Nad hat Recht, wir können nicht so sehr in der Nähe bleiben.«
Es war ein verwirrendes Gefühl, als er aufstand und beiseitetrat. Die Wärme seines Körpers zog sich zurück wie ein Mantel, der sich weich um ihre Glieder gelegt hatte; ein Verlust, irgendwie, und gleichzeitig eine Erleichterung. Mina nestelte hastig an dem Stiefel und hoffte, dass ihr Gesicht sich wieder abkühlte.
Es tat weh, als sie den Stiefel auszog; schlimmer, als sie
gedacht hatte. Sie stöhnte nicht wieder, aber sie biss sich auf die Unterlippe und presste das harte Leder fest zwischen den Fingern. Der Strumpf, der unter dem Schuh zum Vorschein kam, war eher grau als weiß.
Trotzdem zögerte sie, ihn abzustreifen. Nur Kinder liefen ohne Schuhe und Strümpfe durch das Gras; Kinder, die noch nicht wussten, was sich gehört und was nicht. Aber sie hatte nur dieses eine Paar Strümpfe, und wenn sie es zerriss, würde sie sich später die Zehen in den Stiefeln wundscheuern.
Sie rollte den Rand des Strumpfes herunter. Die winzigen runden Köpfchen der Mooskissen strichen über ihre nackte Fußsohle. Es kitzelte sanft.
»Den anderen«, schnurrte Tausendschön, »ziehen wir dann wohl auch besser aus. Es sieht sonst doch ein wenig eigenartig aus, meine ich.«
Pipa kicherte. Entschlossen machte Mina sich über den anderen Schnürsenkel her.
Lilja wickelte ihr eine Binde aus feuchten, kühlen Blättern um den Knöchel, und mit ihrer und Nads Hilfe gelang es Mina, aufzustehen. Und als sie stand, nahm Lilja ihr die Sachen aus den Händen, und Nad hob sie auf seinen Arm, ganz ohne weiteres, als wäre sie nur ein kleines Mädchen, das sich beim Spielen gestoßen hat.
Auch er war warm, warm und nah, sie roch das Gras und die Erde in seinen Kleidern und diesen schweren, wehmütigen Duft nach Herbstlaub, der in seinen Haaren zu hängen schien. Sie genierte sich und versuchte, sich so leicht wie möglich zu machen. Aber das Blut schoss ihr nicht wieder ins Gesicht, und als ihr Kopf an seiner Brust zu liegen kam,
fühlte es sich nicht verwirrend an. Sein Bart über ihr, so struppig, die Falten in seinen Wangen beim Lächeln, so tief und verästelt, wie Borke auf einem Stamm. Die Arme so fest und knorrig … Es war fast so, als wäre es einer der großen Bäume, der sie hielt.
»Kommt«, sagte Lilja nur. »Es wird Zeit.«
Lange gingen sie in dem grünlichen Licht dahin. Die Blätter hoch über ihnen rauschten, und Nads gleichmäßige Schritte schaukelten Mina hin und her wie Wind in den Zweigen. Die Augen fielen ihr zu, einmal, ein anderes Mal. Bis der Wald sich um sie her langsam auflöste und in einem warmen Dunkel versank, das nach Gräsern duftete.
Sie wachte erst wieder auf, als Nad sie behutsam auf den Boden gleiten ließ.
»So, meine Kleine«, sagte er mit seiner tiefen Stimme, die aus dunstigen Nebeln zu ihr aufstieg. »Da sind wir wieder. Jetzt ruh dich aus.«
Mina richtete sich auf. Die Bäume, die sie umgaben, waren schlank und hell. Ihre lichten Kronen rauschten nicht, sie flüsterten wie tuschelnde Kinder im Wind. In der Nähe plätscherte Wasser dazwischen.
Sie war zurück im Taterlager.
Es wäre vernünftig gewesen, Nads Worten zu folgen. Die Erschöpfung hing immer noch an Minas Gliedern wie ein schweres, nasses Tuch, das sie zu Boden zog. Aber die Gedanken in ihrem Kopf schienen nur darauf gewartet zu haben, dass sie wieder erwachte.
»Wo ist er hin?«, fragte sie Nads breiten Rücken, der sich bückte, um das Feuer zu richten.
»Wer?«
»Der Wald, wo ist der Wald geblieben? Oder sind wir schon hindurchgegangen?«
Nad drehte sich um, die Falten um seine Augen kräuselten sich.
»Oh, er ist schon noch da«, sagte er und zwinkerte. »Er ist immer da. Aber das ist nichts, was man einem müden kleinen Mädchen erklären sollte. Diese Dinge sind schwer zu verstehen, selbst wenn man hellwach ist.«
Mina schlang die Arme um ihre Knie. Das kurze Gras kitzelte sie an den Zehen. Ein paar Schritte weiter sah sie Lilja und Rosa die Bündel ordnen, die auf einem Haufen lagen. Bei dem Gedanken, dass die Spieluhr mit
Weitere Kostenlose Bücher