Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
auf den Höfen.«
»Ja«, Liljas Nicken streichelte ihr Haar, »oft tun sie das. Aber was geschieht, wenn sie noch älter werden? Wenn sie sich nicht mehr um den Haushalt kümmern können, wenn sie nicht mehr aufstehen, sich nicht mehr anziehen können? Die Bauern arbeiten sehr schwer, Mina. Jeder Einzelne in einer Bauernfamilie arbeitet schwer. Nicht einmal die Kinder haben die Zeit, alle paar Augenblicke nach Urgroßmutter zu sehen.«
Das Kleid vor Minas Lippen schien die Worte zu dämpfen, erträglicher zu machen. Sie wagte es zu fragen:
»Was … was tut er noch?«
»Viele gute Dinge«, sagte Lilja ruhig. »Viele wichtige, richtige Dinge. Aber mancher, der alt und müde auf einer Küchenbank dahindämmert, ist vielleicht gar nicht unzufrieden mit seinem Los. Mancher, der ungepflegt und vernachlässigt aussieht, weil niemand am Morgen die Zeit fand, ihm die Haare zu kämmen, wird am Abend von den Enkeln gedrückt und mit dicker Suppe geduldig gefüttert. Und niemand ist herzlos und grausam, nur weil er ungebildet ist.«
Mina erinnerte sich an die freundliche, klare Stimme des Doktors.
»Er sagte immer, die Bauern leben wie vor hundert Jahren.«
»Ja«, wieder dies Streicheln von Liljas Kinn, »aber nicht alles vor hundert Jahren war schlecht. Vor hundert Jahren, Mina, wussten die Menschen oft mehr, als sie heute wissen. Manche redeten noch mit dem Mond und mit den Sternen, und diese sagten ihnen, wann sie säen mussten, wann es Regen geben würde, wann das Korn in Gefahr war zu faulen. War das schlecht? Muss man die Menschen von allem losreißen, was sie kennen, weil man es selbst nicht versteht?«
»Das ist es, was er tut?«, fragte Mina.
»Nicht nur die Alten.« Lilja seufzte. Ihre Brust hob sich dabei und legte sich gegen Minas Wange, und plötzlich konnte sie Liljas Herz schlagen hören, laut und klar und voller Kummer. »Nein, nicht nur die Alten. Auch solche, die … besonders sind. Die nicht passen in das, was er für richtig hält.«
Jemand war in Liljas Gedanken, während sie das sagte. Mina spürte es; sie spürte auch, dass nicht sie es war. Trotzdem musste sie fragen:
»Und ich … ich passe nicht?«
Lilja nickte.
»Ich denke es.«
Mina packte ihren ganzen Mut und hielt ihn fest.
»Und … meine Brüder … haben sie vielleicht auch nicht … gepasst?«
Lilja drückte sie.
»Ich weiß es nicht, meine Kleine«, sagte sie, und das Mitleid machte ihre schöne Stimme spröde. »Ich weiß nur, was Tausendschön uns erzählt hat. Dass du mit einer Spieluhr
spielst, die nicht dir gehört. Dass Stimmen um dich sind, Gerüche und Geräusche. Und Bilder, viele Bilder; farbige, leuchtende, tanzende Bilder, die niemand sieht außer dir und einer neugierigen Katze.«
Sie wiegte Mina ein wenig.
»Er sagte uns, sie wären schwach geworden mit den Jahren, ohne dass er wirklich sagen konnte, wer sie waren; schwach und schwächer, so, wie es mit Karol geschehen ist. Dass sie nach dir riefen und du es nicht hörtest. Bis Karol an deine Tür kam und die Drehorgel sich entschloss, das Lied der Spieluhr für dich zu spielen.«
Wieder seufzte sie; und als sie weitersprach, waren die Worte durchtränkt von einem tiefen, tränenlosen Kummer, dem Mina keinen Namen geben konnte.
»Er sagte, das Einzige, woran er sich erinnern kann, als er noch ein ganz junges Kätzchen war, ist dies: Jungenhände wühlten in seinem Fell, und Jungen lachten, als er behaglich dabei schnurrte; dann waren Schritte und Licht und Funkeln, jemand weinte, jemand schrie. Die Hände rissen jäh aus seinem Fell, und das Lachen verstummte. Und die, denen es gehörte, verschwanden aus dem Haus und kehrten nicht zurück.«
»Eines verschwand«, sagte Mina langsam, wie traumverloren, » hinter den Spiegeln .«
Sie hörte Lilja überrascht einatmen.
»Was meinst du, meine Kleine?«
Mina schluckte. Der Gedanke, der hinter den Worten lag, war so ungeheuerlich, so monströs, dass sie sich davor fürchtete, ihm mit noch mehr Worten Gestalt zu verleihen. Aber in der formlosen Hülle des Schweigens nahm er sich noch unheimlicher aus.
»Ich glaube«, sagte sie, viel fester, als ihr zumute war, »dass meine Brüder nicht die einzigen Kinder sind, die nicht gepasst haben und die verschwunden sind. Bei meiner Tante muss der Doktor auch gewesen sein. Der Doktor mit seiner spiegelnden Brille.«
Sie richtete sich auf und löste sich aus Liljas Armen.
»Verzeih«, sagte sie. »Ich glaube, ich muss … Ich danke dir, dass du mit mir geredet hast.
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