Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Aber jetzt … jetzt gehe ich ein wenig am Bach spazieren, wenn es dir recht ist. Ich kann … ich muss …«
Lilja strich ihr sanft über den Rücken.
»Geh nur«, sagte sie. »Und hör ihm ruhig zu, während du gehst. Der Bach weiß viel Rat, wenn er über die Steine fließt.«
Mina hielt sich von der Weide fern. Am Bachufer wandte sie sich in die andere Richtung, wo die Erlen licht auseinanderstanden und keine Sträucher an ihr zerrten. Die Stimmen der Tater verklangen hinter ihr. Als nichts anderes mehr zu hören war als das Plätschern des Wassers, wickelte sie sich das Kleid um die Knie und setzte sich ans Ufer.
Erlenblätter spiegelten sich in den flachen Wellen. Ihre Umrisse wirkten verzerrt, viel kleiner, als sie oben an den Ästen waren, und seltsam farblos. Hat er mich auch so gesehen?, dachte Mina. Bin ich auch ein seltsames, unwirkliches Ding für ihn, hinter seinen Brillengläsern - ein Schemen, ein Zerrbild?
Wie geborgen hatte sie sich bei ihm gefühlt, wenn er kam. Wie hatte sie die Aufmerksamkeit genossen, die er ihr schenkte, ihr allein, wenn sie krank war und er statt des alten Physicus so manches Mal an ihrem Bett saß. Jede
bittere Medizin, die er ihr verordnete, hatte sie klaglos geschluckt. Jetzt war ihr, als schmeckte sie sie alle zugleich ganz hinten auf der Zunge.
Wie aus Trotz versuchte sie, zum allerersten Mal, sich an die Brüder zu erinnern. Unter dem Murmeln des Wassers ließ sie die Dunkelheit kommen, das Weinen und das Klagen im Nichts. Sie zitterte, als es sie umhüllte, aber sie hielt es aus, wartete still, bis es vorüberging. Hielt die Augen zusammengekniffen und spähte in die Dunkelheit.
War da etwas wie das Gefühl einer warmen Jungenhand, die sich auf ihre Wange legte? Kurze Finger, weich und ein wenig klebrig? Zupften sie sie sanft an den Haaren, wie um sie zu einem Spiel aufzufordern? Matte, vage Bilder schwammen durch die Finsternis. Die Photographien aus dem Medaillon?
Die verblassten Gesichter wurden größer und unschärfer, stiegen über ihr auf. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihnen zu folgen. Was war das für ein weicher Stoff unter ihren nackten Füßen? Eine Wolldecke, die jemand im Garten ausgebreitet hatte; Fransen, die mit ihren Zehen spielten … Und dort, am Rand der Decke, zwei Gestalten, viel, viel größer als sie selbst und doch unendlich viel kleiner als die Eltern. Sie warfen ihren Schatten über sie, und er war warm und umfing sie wie eine Umarmung. Sicherheit . Vertrauen. Liebe …
Dann zerrann alles in einem dunklen Nebel.
Der Bach plätscherte lauter; und für den Wimpernschlag, mit dem sie die Augen wieder öffnete, glaubte sie, ein glucksendes Kinderlachen unter dem Geräusch des Wassers zu hören, das rasch davontrieb.
Mehr gab es nicht. Die Zeit hatte alles andere zwischen den Fingern zerrieben, bis nur ein paar dürre Gedanken übrig waren, wie die Skelette der Blätter, die man im Herbst am Boden fand. Nur die paar Gedanken, und ein Gefühl von zielloser Sehnsucht, das Mina vertraut berührte. Zu Hause hatte es sie auf den Dachboden getrieben, zwischen die ausrangierten Kommoden mit den fehlenden Beinen und die bilderlosen Rahmen.
»Wie heißt ihr nur?«, fragte sie den Bach. »Ich kann mich nicht einmal an eure Namen erinnern. Und ihr, wisst ihr denn noch meinen?«
Der Bach plauderte zwischen den Steinen, aber es war keine Sprache, die sie verstand.
Mina seufzte. Es schien, als würde sie ihre Antworten alleine finden müssen.
Sie zog die Beine unter dem Rock hervor, betrachtete ihre bloßen Füße. Der Knöchel unter dem grünen Blattverband war kaum noch geschwollen, als sie ihn vorsichtig umfasste. Hier hatte Viorel seine Finger hingelegt … Ihre Haut kribbelte, und sie verjagte den Gedanken schnell. Nicht schnell genug vielleicht, denn er hinterließ etwas, das sie dazu brachte, sich ihre Füße und Knöchel genauer anzusehen. Sehr weiß war ihre Haut, nicht so wie Zinnis und Pipas; aber auch nicht durchscheinender Nebel wie Karols Gesicht. Milchig, dachte sie und schmunzelte unwillkürlich. Milchweiße Haut, wie die Prinzessinnen in den Büchern. Nur schade, dass sie nicht auch das bildschöne Gesicht dazu hatte … Ihre Knöchel immerhin, sie schienen einigermaßen wohlgeformt zu sein, schlank und mit zierlichen Knochen. Sie nahm den Verband ab und betrachtete sie beide eingehend. Und schließlich wagte sie es,
den Rocksaum ein kleines Stück höher zu ziehen. Der Stoff kratzte über ihre Haut.
Auch die
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