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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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betrachtete sie. Es lag ein Zug um ihren schönen, breiten Mund, der Mitleid sein konnte, oder ein Lächeln.
    »Das«, sagte sie leise, »war es, glaube ich, was Tausendschön schon befürchtet hatte. Aber jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Der zu ihrem Haus war wohl der deine.«
    »Sie ist«, Mina sagte es sehr laut, sie schrie es fast, »sie ist verrückt, meine Tante, irrsinnig! Verrückt, verstehst du, wie die Leute, die man in Anstalten sperrt! Nicht lustig wie die Alte im Dorf, sie hat das ganze Zimmer voller Spiegel und leerer Vasen, und sie schlägt ihre Blumen entzwei!«
    Sie starrte Lilja ins Gesicht, herausfordernd, ohne zu wissen, was es war, dass sie fordern wollte.
    »Das ist schlimm«, sagte Lilja ruhig.
    Ihre Augen senkten sich tief in Minas Blick.
    »Aber du, Mina - du bist nicht deine Tante.«
    »Und wenn es doch so ist? Wenn ich doch vielleicht … genauso verrückt werde wie sie?« Jetzt war es wirklich ein Schreien. Mina schlug die Hand vor den Mund, sehr fest, aber es kam zu spät. In Liljas Rücken hakte sich Rosa bei Viorel unter und zog ihn auf die Bäume zu. Das Mitleid auf ihrem Gesicht brannte in Minas Bauch.
    Lilja legte den Finger auf die Lippen. Mina verstummte,
atemlos, beschämt, aber es war keine Rüge, die in Liljas dunklen Augen lag.
    »Horch«, sagte sie.
    In der Ferne bellte ein Hund.

    »Ich glaube«, sagte Lilja, als das Bellen in einem eisigen Hauch verklungen war, »Herr Tausendschön hat etwas zu dir gesagt, vor einer Weile schon. So hat er es mir jedenfalls berichtet. Du kannst selbst entscheiden, Mina. Du kannst glauben, was du siehst und was du hörst. Oder du kannst glauben, verrückt zu sein. Niemand von uns kann diese Entscheidung für dich treffen. Aber das«, sie hob das Kinn, deutete die Richtung an, aus der das Bellen gekommen war, »das würden sie dir nur zu gerne abnehmen.«
    Ströme von Erinnerungen jagten durch Minas Kopf. Das Heulen und Knurren auf der Landstraße. Das Bellen im Taterlock. Der Hund aus dem Nichts zwischen dem blühenden Raps, in dem schrecklichen Moment, als sie die tote Drossel fand.
    »Aber wer …«, flüsterte sie, »… was sind sie? Und wieso jagen sie mich?«
    Lilja schloss kurz die Augen. »Ich glaube, es gibt sehr viele Namen für sie. Aber vor allem sind sie das, was du hörst, Hunde. Und Hunde jagen, weil einer sie schickt, um zu jagen. Einer, den du sehr gut zu kennen glaubst.«

    »Einer, den ich …« Die Erinnerungen rissen nicht ab. Der schwarze Hund reckte die Schnauze nach der Spieluhr, die über ihrem Kopf glänzte. Die Spiegel im Haus der Tante blendeten sie, und in dem Gleißen sprühten Lichtflecken auf. Der eine Gedanke, der immer wieder an ihr genagt hatte, biss jetzt zu und hielt fest. Die Lichtflecken waren klein und kreisrund, und sie glommen in Paaren auf.
    In funkelnden, spiegelnden Brillengläsern.
    »Wieso kennst du ihn?« Mina hörte ihre eigene Stimme kaum. Graue Leere schien sich um sie her auszubreiten. »Wieso kennst du den Herrn Doktor? Und wieso sollte er … er …«
    Ihr schwindelte. Hinter ihrer Stirn drehte der schwarze Hund den Kopf hin und her, den Blick auf die funkelnde Spieluhr gerichtet. Es war keine Verwirrung in den Bewegungen gewesen, wie sie geglaubt hatte. Es war Erwartung.
    »Er kannte ihn auch«, hauchte sie fassungslos, und erst, als sie es aussprach, wusste sie, dass es die Wahrheit war. »Der Hund kannte ihn, und er dachte, er wäre plötzlich da und würde ihm einen Befehl erteilen … Er hat gemeint, dass er die Brille sieht … die Brille !«
    Lilja schlang die Arme um sie und hielt sie, damit sie nicht in die Leere fiel. Mina sah das graue Nichts unter ihren nackten Füßen treiben, kalt und endlos wie der Herbstnebel. Nur dort, wo Liljas Worte in die Stille tropften, als sie wieder sprach, schien das Gras der Lichtung ein wenig durchzuschimmern.
    »Der Doktor«, sagte Lilja, »ist in den Dörfern gut bekannt. Man ruft ihn zu allen schweren Fällen, und er kommt und nimmt kein Geld dafür, wenn man es nicht hat. Er bringt den Frauen bei, dass sie ihre Säuglinge nicht
in Tücher wickeln, bis sie sich nicht mehr rühren können, wie man es früher getan hat. Er zeigt den Männern Bilder von kranken Trinkerkörpern, damit sie sich bei der Flasche zurückhalten. Er holt die ganz Alten aus den Verschlägen und Küchen, in denen sie hausen.«
    Minas Augen weiteten sich.
    »Aber ich dachte«, flüsterte sie in Liljas Kleid, »die Alten auf den Dörfern wohnen in den Altenteilen hinten

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