Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
ihren Stiefeln und dem Buch der Tante dort liegen musste, fühlte Mina sich seltsam erleichtert. Es war gut, sie geborgen und sicher zu wissen. Gut aber auch, sie eine Weile nicht tragen zu müssen.
Nad hatte sich wieder abgewandt und schlug Funken aus einem kleinen Stein. Es roch beißend. Mina wollte nicht aufdringlich sein, und so fragte sie ihn nicht weiter. Aber die Gedanken ließen sie nicht wieder zur Ruhe kommen.
Vorsichtig probierte sie, ob sie ihren Fuß belasten konnte. Es stach, wenn sie zu viel Gewicht auf ihn legte. Wenn sie nur schwach auftrat und ein wenig hinkte, ließ es sich aushalten. Der Verband aus Blättern war immer noch kühl und besänftigte die Schwellung. Ungelenk humpelte Mina zwischen die Erlenstämme. War da ein Zwinkern in Nads Augen, als sie kurz zurücksah? Oder spielte nur der Rauch in seinem Gesicht?
Sie fand den kleinen Bach schnell, sein munteres Plaudern leitete sie. Feuchte, weiche Erde schmiegte sich an ihre Fußsohlen. Zwischen den Sträuchern am Ufer war es
schwierig, mit dem verletzten Knöchel nicht das Gleichgewicht zu verlieren; sie hielt den Blick fest auf die gebückte Weide gerichtet und klammerte sich an, bis das Gebüsch wieder zurückwich. Schmale, silbergrüne Blätter begrüßten sie raschelnd. Sie hielt den Atem an, als sie die langen Zweige teilte.
Sie sah ihn, Karol, den Drehorgelmann, den Taterkönig, aber was ihren Blick festhielt, waren die kleinen, hellblauen Blumen. Deutlich und klar leuchteten sie zwischen den Gräsern und Blättern, in einem Kreis angeordnet um seine liegende Gestalt. Sie waren da, wie er da war. Nicht durchscheinend, nicht halbverborgen, nicht in der Luft verblasst wie Gesichter in einer Fensterscheibe. Starenschwarz war sein Haar; sachtblau wie ihr Mantel waren die Blüten. Sie wusste, wenn sie es wagte, sich zu bücken, würde sie glatte Strähnen fühlen, samtige Blütenhaut. So wirklich, wie wenn sie sich über das Kleid strich.
Mina ließ den Atem über ihre Lippen strömen. Karol schlief. Und er lag genauso da, wie sie ihn verlassen hatten.
»Bitte«, sagte sie nervös, mit schwankender Stimme, als sie wieder bei den Tatern war, »bitte, könnte jemand mit mir reden?«
Sie wandten sich ihr zu, alle gleichzeitig, Lilja mit einem Brotlaib unter dem Arm, Zinni mit ein paar Holzlöffeln zwischen den Fingern wie einen seltsamen Blumenstrauß. Mina knetete ihre Hände. Nur ganz am Rand nahm sie wahr, dass sie immer noch juckten.
»Ich glaube«, sagte sie leise, ohne jemanden anzusehen, »mein Kopf zerspringt, wenn niemand mit mir redet.«
Einen Herzschlag lang hallte die Stille. Sie konnte nicht
sagen, ob sie unfreundlich war, abweisend - oder überrascht. Und sie wagte es nicht, aufzusehen.
»Natürlich«, sagte Tausendschön. Sie hörte den weichen Plumps, als er von einem Bündel heruntersprang. »Es ist nur natürlich, dass Sie sich so fühlen. Sie sind ein Mensch, nicht wahr? Sie sehen Dinge. Sie hören Dinge. Aber es genügt Ihnen nicht, was Ihnen Augen und Ohren sagen. Sie brauchen Worte. Menschen brauchen immer Worte.«
Er kam auf sie zu, strich an ihr vorbei, ohne anzuhalten, mit einem leisen, seidigen Rascheln. Als sein hoch aufgerichteter Schwanz zwischen den Bäumen verschwand, rief Pipa ihm nach:
»Warum reden Sie nicht einfach mit ihr?«
»Ich?« Sie sahen ihn nicht mehr. »Ich bin doch nur ein Kater, nicht wahr …«
Lilja lachte. Sie legte den Brotlaib auf das ausgebreitete Tischtuch, schob sich das Haar aus der Stirn und sagte:
»Komm her, Mina, du brauchst dich nicht zu genieren. Er hat Recht, es ist nur natürlich. Setz dich zu mir. Die anderen kümmern sich um das Essen.«
Mina sah den giftigen Blick, mit dem Pipa sie streifte, bevor sie sich wieder über das Tischtuch beugte. Aber sie war zu erleichtert, als dass es ihr mehr als einen kleinen Stich gegeben hätte. Sie kniete sich an Liljas Seite, und Beruhigung wehte wie ein kühler Duft aus den Falten des grünen Kleides.
»Worüber«, fragte sie, »möchtest du denn als Erstes reden?«
Hundert Gedanken blitzten wie ein Fischschwarm durch Minas Kopf. Aber der, der auf ihre Zunge schwamm, war keiner von denen, die sie erwartet hatte.
»Ich möchte«, sagte sie stockend, »ich möchte sagen, dass es furchtbar war im Haus meiner Tante.«
Sie sah, dass Zinni sich zu ihr umdrehte, aber Nad legte einen Arm um ihn und zog ihn beiseite.
Mina nickte heftig.
»Ja, es war furchtbar! Und ich wünschte, ich wäre niemals hingegangen.«
Lilja
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