Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
wir nach Haus? / Morgen, wenn die Hähne krähn / wolln wir nach Hause gehen / Brüderlein, Brüderlein, dann gehn wir nach Haus. «
Rosa zuckte zusammen. »Mina«, sagte sie und ließ die Decke fallen, die sie auseinandergefaltet hatte, »ich glaube, du solltest nicht allein zum See gehen. Wenn du möchtest, komme ich mit dir.«
Als Mina nickte, hakte sie sich bei ihr ein. Das Lächeln zitterte auf ihren Lippen, und ihre Haut war kalt.
» Schwesterlein, Schwesterlein «, sang Pipa immer noch irgendwo in der Dämmerung hinter ihnen, » wann gehn wir nach Haus? - Mein Liebster tanzt mit mir … «
» … geh ich «, sagte Rosa leise, während sie sich einen Weg durch das Schilf am Seeufer suchten, » tanzt er mit ihr …« Sie seufzte und bog einen Holm aus dem Weg. »Komm, Mina. Wir können uns auf den großen Stein da vorne setzen, bis es dunkel ist.«
Der Stein lag zwischen Schilf und Wasser, und der graue Schimmer des Sees umgab ihn wie ein feines Tuch. Ein Nebelhauch schien über dem Wasser zu liegen; die Uferränder ihnen gegenüber wirkten verschwommen und fern.
Mina wickelte sich das Kleid um die Beine. Der Stein unter ihnen war hart und feucht, und vom Wasser stieg Kühle
auf. Sie legte sich ihr Bündel auf den Schoß; das satte Grün war ein leuchtender Farbfleck im Dämmerungsgrau. Die Spieluhr im Bündel stellte sich quer und drückte ihr gegen die Schenkel. Sie zog sie schließlich heraus, und das Holz schmiegte sich warm an ihre klammen Finger.
Schweigend saß Rosa neben ihr.
Sie warteten. Und je tiefer die Dämmerung auf das Wasser niedersank, desto weißer schimmerte der Nebel.
Sie stiegen aus dem See empor, eine nach der anderen. In dunklen Kleidern, die wie die sanften Wellen waren, und hellen, die der Nebel webte; mit Spitzentüchern, die der schwache Wind bewegte, und Schleiern über dem aufgelösten Haar. Kränze saßen darauf, selbst vom Stein aus konnte Mina sie sehen. Kränze aus Myrten, Rosen und Thymian … Aber die Farben der Blumen waren bleich wie die Gesichter darunter, junge und alte, schöne und hässliche, und alle tief gesenkt. Sie stiegen empor ohne einen Blick füreinander, begannen sich zu drehen, langsam, bedächtig, Runde um Runde; und wenn die Kleider beiseitewehten, konnte Mina die großen, durchsichtigen Blüten sehen, die unter ihren Füßen schimmerten. Wie im Mittelgang der Kirche, wenn die Braut so stolz nach vorne schritt …
Weh fasste Mina ans Herz, schneidend scharf. Sie griff nach Rosas Hand und fand sie, ohne hinzusehen.
Die Nebelgeister auf ihren Blüten trieben zur Mitte des Sees. Ein Kreis bildete sich, der sich langsam um sich selbst zu drehen begann. Der Dunst über dem Wasser wehte fahle Träume aus ihren Schleiern, bis zum Ufer hin. Kalt berührte er Minas Stirn.
» Schwesterlein, Schwesterlein «, sang Rosa leise und brüchig,
» was bist du so blass? / Das macht der Morgenschein auf meinen Wängelein …«
… die vom Taue nass , sang Mina stumm zu Ende. Ja, vom Tau, vom Tau … An jenem eisgrauen Morgen, wenn alle Gäste längst gegangen sind, nachdem sie Stunden vergebens gewartet haben, auf den Bräutigam, der niemals kommt.
Sie fühlte, wie sie sich in ihr regten, all die halbgehörten Geschichten, die die Mädchen sich in der Küche zuflüsterten, all die düsteren Andeutungen, die in ihren traurigen Liedern lagen; diesen Liedern, die vom Verlassensein handelten, vom Kummer, der das Herz schwer wie Blei macht - und vom Wasser, immer wieder vom Wasser …
Nur sie steht noch da, dachte es in Mina ohne ihr Zutun, und zugleich mit den Worten stiegen die Bilder in ihr auf. Sie, die vergessene Braut, immer noch an der Kirchentür, in dem schönsten Kleid, das sie jemals besitzen wird. Und da ist die Sonne, wässrig und schwach, hinter dem Kirchturm, in dem die Glocken schweigen, und er, er ist nicht gekommen.
Die Braut geht die Stufen hinunter, eine nach der anderen. Durchs Dorf, über den kleinen Platz beim Brunnen, wo er sie das erste Mal bei ihrem Namen nannte. Vorbei an der Linde, wo sie im Frühling das erste Mal zusammen tanzten, vorbei am Holunder neben der Straße, der die allerersten sachten Küsse hörte, sacht wie fallende Blätter. Vorbei an ihrem Elternhaus, der Vater hat im Schuppen das Gesicht in den Händen vergraben, die Mutter weint und wartet in der Kammer. Aber die Braut öffnet die Haustür nicht. Sie steht davor, einen schweren Herzschlag lang oder zwei; streckt die Hand einmal aus nach der Klinke und lässt sie
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