Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
Reißzähne in seinem Unterkiefer waren so groß wie Tals Hände. Im Licht des Turmes erschienen seine unscharfen Umrisse wie wogende Wellen der Dunkelheit.
Er trug Gref in der einen Hand und zog mit der anderen Grefs Schattenwächter wie einen Sack über dessen Gesicht. Es war nirgends eine Spur von dem Erwählten zu sehen, an den der Geistschatten gebunden sein musste. Doch wem auch immer er diente, er brachte Gref nach unten in dem Turm, vielleicht zum untersten Balkon, an dem Tal seine Klettertour begonnen hatte.
Tal zögerte. Er wollte Gref retten, doch er wusste, dass auch er gefangen genommen werden würde. Und das würde weder ihm noch Gref oder seiner Familie helfen. Wie schon zuvor lag seine einzige Chance in der anderen Richtung: dort oben bei den Sonnensteinen.
Tal wandte sich wieder dem Schleier zu. Es war ein Fehler gewesen, langsam darin einzutauchen. Dieses Mal musste er hineingreifen, etwas zum Festhalten finden und so schnell wie möglich hindurchklettern.
Er holte ein paar Mal tief Luft und stand dann schnell mit nach oben gestreckten Armen auf. Er berührte etwas Steinernes und bekam etwas zu fassen, woran er sich festhalten konnte. Einen Augenblick später zog er sich in den Schleier hinein.
Wieder umgab ihn völlige Dunkelheit. Doch dieses Mal war Tal darauf vorbereitet. Er zog sich auf den nächsten Gargoyle und griff nach oben, um den nächsten Halt zu finden. Er fand einen, zog sich hoch und machte das Ganze noch einmal.
Er war noch immer nicht durch den Schleier hindurch und langsam ging ihm die Luft aus. Vorsichtig versuchte er, Atem zu holen. Es funktionierte, doch seine Angst, keine Luft zu bekommen, wurde bald von einem anderen Schrecken verdrängt. Was wäre, wenn er sich im Schleier verirrte? Vielleicht konnte man ihn überhaupt nicht durchqueren? Oder nur im Innern der Türme? Vielleicht war er jetzt für immer im Schleier gefangen!
Ohne Rücksicht auf seine zerkratzten Hände und zerschundenen Knie kletterte er schneller weiter. Ein paar Mal wäre er beinahe abgestürzt, doch sogar das machte ihm weniger Angst als die Aussicht, für immer im Schleier gefangen zu sein. Er musste durch ihn hindurch gelangen.
Mit einem Mal durchbrach er den Schleier und fand sich im genauen Gegenteil der Dunkelheit wieder. Tal schrie auf, als das gleißende Sonnenlicht seine Augen traf. Wieder stürzte er beinahe, doch sein Schattenwächter schob sich über Tals Kopf und schützte seine Augen mit der ihm eigenen, seltsamen Substanz, die so leicht wie Luft, so fließend wie Wasser oder so fest wie menschliches Fleisch sein konnte.
Tal hielt sich noch einen Augenblick halb im Schleier hängend fest, bis das Brennen in seinen Augen nachließ. Er fühlte seinen Schattenwächter auf seiner Stirn und die ungewohnte Hitze der Sonne auf seinen Wangen.
Langsam öffnete Tal die Augen und sah sich um. Direkt über ihm war ein kleiner Fleck blauen Himmels. Er erschien ihm fremd und unfreundlich im Vergleich zur angenehmen Dunkelheit unterhalb des Schleiers. Um den blauen Fleck lagen kleine graue Wölkchen, von denen ein paar schon nach unten durch den Schleier glitten – sie würden wohl Schnee bringen. Genau im Zentrum des blauen Flecks lag die Sonne. Sie war so hell, dass er nicht direkt hineinsehen konnte. Sie schien gefährlich zu sein, strahlte so viel Licht und Hitze aus, dass Tal befürchtete, er könne jeden Moment in Flammen aufgehen.
Der Rote Turm ragte – wie alle anderen Türme – noch weiter in den Himmel empor. Aber hier waren die Turmmauern anstatt mit Spitzen, Verzierungen und Gargoyles rundum von langen, ausladenden Bronzestangen bedeckt, die ungefähr so dick waren wie Tals Hüften. An den meisten der Stangen hingen silberne Netze.
Und in diesen Netzen lagen die Sonnensteine. Tal wusste, dass sie aus kleinen Juwelen heranwuchsen, die man aus Aenir, der Geistwelt, mitbrachte. Er hatte aber noch nicht erfahren, wie sie hier aufgezogen wurden.
Er wollte es auch nicht wissen. Nicht jetzt. Er wollte nur eines: höher hinaufklettern. Dort oben waren die mächtigsten Steine.
Langsam zog er sich aus dem Schleier und kniete sich so dicht wie möglich an der Wand auf den Steinsims. Nirgendwo waren Geistschatten oder andere Erwählte zu sehen. Weiter oben jedoch gab es eine Art Balkon und es war leicht möglich, dass dort jemand stand. Oder auf dem Laufsteg, der ganz oben, ein paar hundert Klimmzüge weiter, den Turm umrundete.
„Schattenwächter, Schattenwächter, webe mir einen Mantel so
Weitere Kostenlose Bücher