Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
mächtigen. Nicht einen wie den Kinderstein, der an seinem Hals hing. Tal atmete tief ein und steckte den Stein wieder unter sein Hemd. Er musste weiterklettern. Über den Schleier hinaus. Ins offene Sonnenlicht.
Natürlich hatte er zuvor schon das Sonnenlicht gesehen. Schon viele Male in Aenir, der Geistwelt. Aber dort war es gedämpfter, nicht so hell. Tal hatte nur ein einziges Mal die echte Sonne gesehen. Als er zehn Jahre alt gewesen war, hatte man seine Klasse mit über den Schleier genommen und ihnen die Sonnensteine gezeigt, die in silbernen Netzen an den Türmen wuchsen. Obwohl die Sonne am Beobachtungspunkt abgedunkelt gewesen war, hatten die Kinder ihre Schattenwächter benutzen müssen, um ihre Augen zu schützen. Sonnensteine fingen zwar das Licht der Sonne ein, doch selbst die stärksten konnten sich nicht mit der Helligkeit und der Kraft der Strahlen des Himmelskörpers messen.
Damals war er die Treppen des Orangefarbenen Turmes hochgestiegen. Tal hätte sich nie träumen lassen, dass er einmal an der Außenseite eines Turmes hochklettern würde… um einen Sonnenstein zu stehlen.
„Um einen Sonnenstein zu stehlen“, sagte er laut zu sich selbst. Es war seine letzte Chance. Das Einzige, was ihm einfiel, um seine Familie zu retten. Alles andere hatte er schon versucht.
Und es war das Riskanteste, was er sich vorstellen konnte. Die Kletterpartie bis hierher war schon schwer gewesen, doch das war nichts gegen das, was ihn noch erwartete. Auf der anderen Seite des Schleiers würde es Wächter und Fallen geben – mächtige Geistschatten, die seinen Schattenwächter in Sekunden auffressen und Tal fangen konnten. Oder es könnten andere Erwählte da sein, Mitglieder des Roten Ordens, die nur darauf warteten, einen Jungen des rivalisierenden Orange-Ordens gefangen zu nehmen. Dann würde ihn der Saal der Albträume oder noch Schlimmeres und seine Familie eine Katastrophe erwarten.
Tal schüttelte den Kopf und kletterte weiter. Er erreichte einen Gargoyle knapp unter dem Schleier und kauerte beinahe unwillkürlich nieder, als wolle er den zwingenden Griff in die unendliche Dunkelheit über seinem Kopf hinauszögern. Es war beinahe so, dachte Tal, als befände man sich unter Wasser und blickte nach oben. Nur dass er in die Dunkelheit anstatt ins Licht sah. Schließlich streckte er seine Hand durch den Schleier und schauderte, als sie verschwand. Doch er konnte sie noch spüren. Sie war noch da.
Er stand auf. Sofort war er von völliger Dunkelheit umgeben. Er musste plötzlich heftig atmen, als seine Lungen ihren Dienst zu versagen schienen. Die Dunkelheit saugte ihm die Luft heraus.
Er duckte sich wieder in das angenehme Zwielicht und die hellen Lichtstrahlen der Türme. Seine Hand hatte er um seinen Sonnenstein geschlossen, der jetzt hell erstrahlte. Tal konzentrierte sich darauf und das Licht wurde wieder schwächer. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Keine zwei Sekunden später drang das Echo eines schwachen Schreies zu ihm herauf. Einen Moment lang dachte er, man hätte ihn entdeckt und so presste er sich eng an die Turmmauer. Doch dann wurde ihm klar, dass das nicht der Schrei einer Wache gewesen war. Und auch nicht der hohe, unmenschliche Laut eines Geistschattens. Es hatte sich eher wie ein Hilfeschrei angehört.
Der Schrei erklang noch einmal und ein seltsam leeres Gefühl breitete sich in Tals Magengegend aus. Er kannte diese Stimme! Schnell sah er nach unten. Dort unten, vielleicht hundert Spannen tiefer, flatterte ein weißes Hemd mit ein paar orangefarbenen Flecken im Wind. Es war das selbe Hemd, das auch Tal trug: die weiße Uniform eines Kindes, mit einem Kragen und den Manschetten in der Farbe seines Ordens. Irgendjemand war ihm gefolgt.
Es musste sein jüngerer Bruder Gref sein, ein neun Jahre alter Desperado, der alles nachmachte, was sein älterer Bruder tat. Tal erkannte seine Stimme und den kleinen, schwachen Sonnenstein.
„Wenn du mich berührst, wird Tal dich in Stücke schlagen! Verschwinde! Versch…“
Grefs Stimme war plötzlich verstummt. Einen Moment lang dachte Tal, sein Bruder wäre gestürzt und sein Herz schien stehen zu bleiben.
Doch Gref war nicht gestürzt. Ein großer Geistschatten hatte ihn gepackt, einer in der flatternden Form eines Borzog. Diese Kreatur war in ihrer lebenden Form schon längst ausgestorben. Der Schatten war mindestens vier Spannen hoch und hatte enorm breite Schultern. Seine Arme baumelten auf Höhe seiner Knie und die beiden
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