Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
rot wie der Turm“, flüsterte Tal. Er konzentrierte sich dabei auf seinen Sonnenstein, der in der Farbe des Turmes zu leuchten begann. Er spürte, wie der Schattenwächter sich bewegte und sah einen langen, dünnen Schattenfinger nach seinem Sonnenstein greifen. Die Farbe des Steines schoss sofort in den Schatten, bis er das selbe Rot trug. Dann spürte Tal, wie sich sein Schattenwächter über seinen Rücken legte, bis hinunter zu den Knöcheln.
Ein paar Sekunden später war Tal in einen Mantel mit Kapuze gehüllt, der genau so rot war wie die Mauern des Turmes. Solange er langsam hinauf kletterte und nicht allzu viele Geräusche machte, würde er so gut wie unsichtbar sein.
Vorsichtig begann er zu klettern. Die Bronzestangen waren glatt. Er konnte sich nicht so gut daran festhalten wie an den Steinspitzen darunter, dafür lagen sie enger beieinander. Tal konnte sie wie Treppenstufen benutzen. So bewegte er sich beim Klettern nicht nur Stück für Stück nach oben, sondern auch um den Turm herum.
Als er beinahe auf Höhe des Balkons war, warf er einen Blick nach oben. Ein gewaltiger Kopf sah ihn über das Geländer hinweg an. Es war der grotesk aussehende und Furcht einflößende Kopf eines Geistschattens. Er hatte mehrere Augen und einen Mund so breit wie das ganze Gesicht; ein paar Zahnreihen mit kleinen, aber sehr scharfen Zähnen waren darin zu erkennen. Es war einer der größten Geistschatten, die Tal je gesehen hatte. Und das wiederum bedeutete, dass es einer der mächtigsten war. Viel zu mächtig, um im Dienst der Roten zu stehen, dem schwächsten aller Orden.
Tal hielt inne in der Hoffnung, dass der Schatten ihn nicht gesehen hatte.
Minutenlang rührte Tal sich nicht. Dann schoben sich Wolken vor die Sonne und auf einmal war es sehr viel dunkler, der Geistschatten war kaum noch zu sehen. Tal verharrte regungslos, atmete kaum. Sein Herz klopfte so laut, dass er sicher war, der Geistschatten würde es hören.
Dann begann es zu schneien. Schneeflocken fielen herab, wurden vom Wind, der um den Turm herum wehte, erfasst und in kleinen Wolken seitlich fortgetragen.
Tal wusste, wie Schnee aussah. Er hatte ihn schon mehrere Male durch die dreifach verglasten Fenster des äußeren Korridors gesehen. Aber er hatte nie zuvor das Schloss verlassen. Er hatte noch nie zuvor Schnee berührt.
Eine Schneeflocke landete auf Tals Nase. Zunächst fühlte sie sich kalt an und dann plötzlich nass.
Er musste niesen.
Der Geistschatten über ihm stieß einen Zischlaut aus und lehnte sich über das Geländer. Tal hielt den Atem an, doch es war zu spät. Der Schatten hatte ihn gesehen. Er lehnte sich weiter und weiter hinaus; ein Körper wurde sichtbar, der an den einer Schlange erinnerte – lang, biegsam und sich windend. Einen Moment lang dachte Tal, der Geistschatten würde vornüberfallen, doch er schlängelte sich langsam zu ihm hinab. Seine Augen, schwarze Punkte noch dunkler als der Rest seines Schattenkörpers, waren fest auf Tal gerichtet.
Tal kämpfte gegen die Angst, der Schatten könne ihn fangen. Er würde ihn sicher dem Lumenor der Roten vorführen und dann in den Saal der Albträume bringen. Tal würde niemals einen Erhabenen Sonnensteinbekommen, wahrscheinlich degradiert werden und sich in die Reihen des Untervolks einfügen müssen. Von dort würde er seiner Mutter, Gref oder Kusi nicht mehr helfen können.
Doch der Geistschatten versuchte nicht, nach ihm zu greifen. Stattdessen schoss er abrupt nach vorn und riss sein Maul voller Zähne so weit auf, dass er Tals Kopf mit einem Bissen hätte abreißen können.
Tal wurde von seinem Schattenwächter zur Seite gestoßen, als der Geistschatten zuschlug. Trotz seines Schrecks griff Tal instinktiv nach einer der Stangen und schlang die Beine darum.
Kopfüber hängend sah Tal, wie die Kreatur sich zurückzog und einen neuen Angriff vorbereitete. Tals Schattenwächter stieß einen schrillen Pfeifton aus – sein Warnsignal –, als er sich in den Schatten eines Jungen verwandelte und Tal wegstieß.
Tal hangelte sich an der Bronzestange in Richtung der Sonnenstein-Netze. Er konnte nicht glauben, was passiert war. Geistschatten durften Erwählte nicht verletzen!
Der Geistschatten lachte – ein Furcht erregendes, helles Gackern, das Tal aus seinem Schock riss. Er schwang sich hoch, gelangte wieder in eine aufrechte Position und schob sich weiter an der Stange entlang. Dann sprach der Geistschatten plötzlich und machte Tal damit noch mehr Angst. Im
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