Der siebte Turm 04 - Jenseits der Grenze
flüsterte Odris.
„Ein Fingernagel“, sagte Milla. „Denk daran, du darfst nicht sprechen, wenn wir draußen sind. Ein Eiscarl könnte sich in der Nähe verstecken. Ich werde sofort getötet, wenn jemand den Verdacht hat, dass du ein Geistschatten bist. Ich muss aber unbedingt meine Nachrichten zu den Cronen bringen, bevor ich sterbe.“
„All dieses Gerede vom Sterben“, sagte Odris. „Ich werde dich sowieso nicht sterben lassen.“
„Die Cronen werden sich mit dir befassen“, sagte Milla grob.
„Pfff. Wir werden sehen.“
Kurz vor dem Ausgang fand Milla ihren schweren Fellmantel wieder, den sie auf dem Ruinenschiff erhalten hatte. Sie ordnete ihre Ausrüstung neu an, um den Mantel anzuziehen. Dann sah sie Tals Mantel, der unter ihrem gelegen hatte. Ein unbestimmtes Gefühl der Bedrückung überkam sie beim Gedanken an den Jungen der Erwählten. Es war unfreundlich gewesen, sich ohne jede Verabschiedung davonzuschleichen, vor allem von jemandem, mit dem man für eine Mission verbündet worden war. Selbst wenn er sie verdammt hatte, indem er ihren Schatten weggegeben hatte.
„War das Tals Mantel?“, fragte Odris. „Ich habe das Gefühl, dass ich ihn genauso vermisse wie Adras. Witzig, nicht? Das Gefühl muss von dir kommen, denn mir ist er völlig gleichgültig.“
„Es kommt nicht von mir“, zischte Milla. „Tal ist unwichtig. Und jetzt sei still.“
Als sie aus dem Tunnel kletterte, schlug ihr die Kälte voll ins Gesicht. Milla war noch nie zuvor für eine so lange Zeit fort gewesen und so schnitt sie ihr geradezu den Atem ab. Sie musste stehen bleiben und eine Rovkir-Atemübung durchführen, um nicht weiterzuzittern. Glücklicherweise war das Wetter gut – zumindest für Eiscarl-Verhältnisse. Der Wind war stark und gleichmäßig und ihr Sonnenstein leuchtete hell in die ewige Dunkelheit hinaus. Kein Schnee, Hagel oder Regen fiel in den Lichtkegel um sie.
Hier draußen war es für Odris noch schwieriger, sich wie ein natürlicher Schatten zu verhalten. Der Wind rief nach ihr wie in Aenir und verlockte sie dazu, einfach in die Luft zu steigen und ihm zu folgen. Doch gleichzeitig fühlte sie Millas Schatten tief in sich. Er verankerte sie mit dem Eiscarl-Mädchen. Irgendwie half Millas Rovkir-Atmung auch dem Geistschatten zur Ruhe.
Es dauerte nur einen Moment, das Skelett auszupacken und den Schädel mit den Knochen ins dunkle Nichts zu werfen. Mit etwas Glück, dachte Milla, würde jemand oder etwas sie finden – vielleicht, um darauf zu kauen oder einen Bau zu befestigen.
Nicht weit außerhalb des Einstiegs zum Heiztunnelsystem stand die Kristallpyramide von Imrir. Kurz danach kam der Abgrund in der Straße. Tal und Milla waren darüber hinweggesprungen. Jetzt stand Milla allein am Abgrund und starrte hinunter in die Dunkelheit.
Sie erwog, noch einmal zu springen. Würde es sie schwächen oder ihr eher Stärke verleihen, Odris über sich zu haben? Sie sollte ihren unnatürlichen Schatten nicht einsetzen. Andererseits war es auch ihre Pflicht, den Sonnenstein so schnell wie möglich zu ihrem Schiff zurückzubringen und die Cronen vor der Gefahr zu warnen, die dem Schleier drohte.
Sie hatte schon einmal den Fehler gemacht, ihre eigenen Wünsche über die Pflicht zu stellen.
Sie würde Odris benutzen.
„Ich will, dass du mich auf die andere Seite bringst“, sagte sie und hielt die Arme hoch.
„Ich brauche mehr Licht“, sagte Odris. „Und Anlauf.“
Milla nickte und ging wieder zurück. Im Gehen konzentrierte sie sich auf ihren Sonnenstein. Sie erlangte immer mehr Kontrolle darüber, war aber noch immer viel langsamer als Tal. Der Stein wurde langsam heller und vergrößerte den Ring aus Licht um sie. Odris glitt hoch in die Luft und dehnte sich zu einer bauschigen Schattenwolke aus. Sie driftete immer wieder kurz aus dem Lichtkegel, als sie sich der Bewegung des Windes anpasste.
Milla hielt ihre Arme hoch.
Gerade als Odris nach ihr griff, durchschnitt ein Furcht erregender, schneidender Schrei die Luft und ließ sie beide innehalten. Odris flog los, als eine gewaltige, geflügelte Kreatur herabsauste und ihre Klauen in Odris’ Schattenfleisch und beinahe auch in Milla schlug.
„Perawl!“, schrie Milla, doch Odris hielt sie so fest, dass sie nicht einmal ihr Messer ziehen oder sich drehen konnte, um zuzubeißen. Sie war völlig wehrlos und der Attacke eines der wildesten Raubtiere ausgesetzt, das es auf dem Eis gab.
KAPITEL SECHZEHN
Tal war überrascht,
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