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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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brachte das Bayerische Staatsschauspiel Antigone in Franzis Übersetzung heraus. Damit erübrigte sich das Fahrrad.
    Bis zum heutigen Tag hat er über fünfzig Anouilh-Stücke übersetzt.

Endlose Nächte

    E ines der wichtigsten Wörter im Umlernprogramm hieß curfew. Es betraf die Stunden der Nacht von anfangs neunzehn Uhr, nach und nach zweiundzwanzig Uhr dreißig, bis sechs Uhr früh. Während dieser Zeit durften deutsche Personen nicht einmal über die Straße gehen; es sei denn, jemand wollte sich in Hoffnung auf eine wärmere Unterkunft verhaften lassen. Unter den zahlreichen einschneidenden Verboten war der curfew zweifellos eines der einschneidendsten .
    Da traf man sich zu einem kleinen, oft sehr kleinen Abendessen, in einem Zimmer. Jeder trug etwas dazu bei. Vielleicht sogar Alkohol. Nicht daß der für das Gelingen wichtig gewesen wäre. Das überlebensgroße Mitteilungsbedürfnis sprudelte auch so, sprudelte Ratschläge, Warnungen, Hinweise auf geheime Bezugsquellen hervor, und ein unerschöpflicher Vorrat an Gelächter erhob die Stimmung alsbald weit über die Realität. Schließlich war alles gesagt und belacht. Normalerweise hätte man sich verabschiedet, um hochgestimmt den Heimweg anzutreten. Doch da war es bereits zu spät. Curfew.
    Statt des Moccas serviert der Gastgeber Jazz vom amerikanischen Soldatensender AFN. In der Ecke tanzt ein Paar. Man plappert weiter, singt die geläufigen Texte mit, raucht, albert, träumt. Bei fallendem Kalorienspiegel gelingt es, erste Gähnkrämpfe noch als Lachsalven zu tarnen. Doch das Echo wird matter, und der Drang, sich in die Horizontale zu begeben, wird nach Ende der Nachtsendung Midnight in Munich unwiderstehlich. Dabei quoll das Zimmer schon über, als noch alles saß. Rücken krümmen sich, Extremitäten winden sich um Möbel, so gut es geht, man hört Atemzüge. Gleich porösen Fahrradschläuchen sacken abgespeckte Hinterteile sozusagen zum Plattfuß durch. Kälte kriecht von den Zehen ristaufwärts die Waden hoch; Köpfe sinken zur Wärmeanleihe nachbarwärts. Manche versuchen sich mit Küssen und ähnlichen Zuwendungen Temperaturvorteile zu verschaffen, doch die Glühbirne, die sie dafür dezenterweise löschen, hätte mehr Wärme abgestrahlt, als ihr gebremstes Schnaufen. Ein Umsichtiger hat sich in einen kleinen Teppich eingerollt, den Mantel als Kopfkissen untergeschoben.
    Nur zwei sitzen bei einer Zigarette noch relativ aufrecht am Tisch. Hohlwangig flüstern sie vor lauter Müdigkeit letzte Dinge. Bis ihnen die ganze Welt sauer aufstößt und sie das Thema abrupt wechseln, zu Schweinebraten, Gänseleber, Spargelcremesuppe, Scampi, Emmentaler überbacken, Mousse au chocolat übergehen. Langsam sinken die Köpfe in die Armbiege auf der Tischplatte.

    Wer sich aus irgendeinem Grund außerhalb seines Freundeskreises einladen ließ, den erwartete eine Nacht in Zeitlupe, die selbst Alkohol nur notdürftig zu lindern vermochte. Bei Scherzen aus der falschen Schublade, ohne Gelächter, ohne Sex oder letzte Dinge, rächte sich die Berechnung. Klamm in Kleidern, ungeborgen, mit Zahnbelag, döste man ins Morgengrauen voll Grauen vor dem Morgen. Überhaupt auf zu wachen war schon eine Zumutung. Und vor sich den Heimweg. Ohne Frühstück.
    Man ging nicht allein. Die Mädchen mußten heimgebracht werden. Auch die Nichtgeküßten. Unbegleitete weibliche Wesen wurden bis hinauf in reifste Jahrgänge von den Besatzern als Fräuleins angesehen und entsprechend behandelt. Bald wäre ein Jeep nebenhergerollt und eine Stimme hätte mit Kaugummiakzent gerufen: »Hello baby! Ain’t got time for a quicker ?«
    Mochte das eigene Frühstück durch Umwege oder Unbilden der Witterung hinausgeschoben werden, Begleitung mußte sein, Begleitung gab Halt und Ansporn. Kreislauflabil hielt man sich aneinander fest.
    So boten die frühen Morgenstunden ein seltsames Bild. Neben den Tätigen, die mit festem Schritt zur Arbeit strebten, und sei es, um rechtzeitig irgendwo für irgend etwas anzustehen — das war Arbeit! — fiel die große Zahl übernächtiger Pärchen auf. Untergehakt, mit starrem Vogelblick, bewegten diese sich gegen den Strom der zu Ämtern und Pflichten Strebenden. Wie vertriebene Liebende auf der Suche nach einem Bett oder wie Übriggebliebene von einer langen Ballnacht, irrten sie mehr schlingernd als gehend durch die Straßen. Dabei gab es noch keine öffentlichen Bälle, und privater Fasching war zwar nicht verboten, dauerte aber keineswegs das ganze

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