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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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Jahr.
    Damals wurde die Geschichte von zwei Curfew-Geschädigten belacht. Umschlungen wie sie dahinwankten, mußte man sie, von vorne betrachtet, für Liebende halten oder für Frierende, die Grenze war da fließend, zumal es in dicken Flocken schneite. Von hinten dagegen sahen sie eher nach Ballnachtgespann mit gemeinsamem Heimweg aus. Ihm fehlte die bei der herrschenden Witterung an sich selbstverständliche Kopfbedeckung, nicht aber das Stimmungsvehikel, ein Akkordeon, das er ohne Schutzhülle wie einen Rucksack auf dem Rücken trug. Im Münchner Künstlerviertel Schwabing waren sie gesichtet worden, glasig aber zielstrebig Kurs auf den Englischen Garten haltend, genauer auf den westlichen Rand desselben, wo erhöht die Silvester-Kirche steht, der um diese Stunde ausgeschlafene Katholiken zustrebten. Mit diesen stieg auch das Paar die Treppe zum Portal hinauf.
    Will der etwa im Gottesdienst Ziehharmonika spielen? fragten die Blicke der Kirchgänger. Doch nein. An der Duftgrenze zwischen unheiler Welt draußen und Weihrauch drinnen blieb der Alleinunterhalter stehen. Seine Begleiterin tauchte aus der Umarmung, gab ihm einen Kuß, bekreuzigte sich sogleich und verschwand mittelschiffs.
    Lautstark kam der Organist zur Sache; Nachzügler eilten, des Zurückgelassenen nicht achtend, in die Geborgenheit gemeinsamen Singens. Ein dumpfes Rollen — die Gemeinde erhob sich. Draußen blieb der Schnee liegen, deckte Trümmer mit frischen Federkissen zu, die Not wurde leiser. Ein Wintermärchen. Gravitätisch standen Straßenlaternen, gleich Eisbechern, von ausladenden Sahneturbanen gekrönt. Auch der Putto neben dem Portal hatte einen merkwürdigen Schneebuckel. Vielleicht war es ein Amor, den Köcher geschultert? Täuschte das Flockenflimmern oder hatte er sich eben bewegt? Nur wenig, wie ein lebendes Bild, das seufzt.
    Die Andacht zog sich. Oder die Beichte. Immer mehr geriet der Putto ins Pendeln, langsam aber rhythmisch — ein kopflastiges Metronom. Dazu knarzten seine Schuhe, was bei den fettlosen Zeiten nicht überraschte. Oder kam das Geräusch von weiter oben? Der Mund stand offen, die Augen waren geschlossen. Jetzt knarzte das Portal. Die fromme Fee trat hinaus ins Märchen, bekreuzigte sich noch einmal und bekam einen recht halbweltlichen Lachkrampf. »Steht da und schnarcht! Du Armer! Komm mit zu mir. Ich mach’ uns einen Tee, bevor der Strom wieder abgeschaltet wird.«

    Manchmal ließ es sich nicht vermeiden, den Curfew zu ignorieren. Ein kranker Mitmensch brauchte Hilfe, dunkle Geschäfte hatten sich in die Länge gezogen. Dann hieß es: sich nicht erwischen lassen. In Straßenkampf manier — gelernt ist gelernt — rannte man von Ecke zu Ecke und geduckt von einem Gehsteig zum andern.
    Da traf sich zur heure bleue eines kalten Tages Anfang 1946 unsere Clique in einer Wohnung, um von dort zusammen auf ein Faschingsfest zu gehen, ein privates, versteht sich. Jeder brachte Kostüme mit, Bärte, Schminke, Hüte, Perücken und andere Accessoires sowie nach Möglichkeit etwas Alkoholisches. Sich gemeinsam zu verkleiden, einander zu begutachten, Kostümteile zu tauschen, beflügelte die Phantasie, steigerte die Wirkung. Es gab keine bessere Einstimmung auf das kommende Ereignis. Gemeinsame Maskerade hatte bei uns den Rang eines Rituals.
    Auch in anderen Wohnungen putzten sich Freunde heraus, bevor sie den Sternmarsch zum Fest antraten. Manche Einfälle brauchten soviel Zeit, daß man sie über dem Spaß, den alle dabei hatten, einfach vergaß. Niemand drängte, die späten Auftritte galten erfahrungsgemäß als die besseren. Hochgestimmt und keineswegs leise, machte sich das Dutzend erst gegen Mitternacht auf den Weg. In der Ludwigstraße, zwischen Siegestor und Feldherrnhalle geschah es, daß ein Jeep der Militärpolizei die bizarren Wesen mit den Scheinwerfern erfaßte. Sie blieben stehen und lachten.
    »Verboten !« sagte einer der Patrouillenmänner und machte in englischer Sprache, beziehungsweise in dem, was er für Englisch hielt, auf den Curfew aufmerksam: Niemand dürfe sein Haus verlassen.
    Das wisse man, antworteten die Maskerer mit englischer Aussprache, dummerweise sei es spät geworden und man müsse dringend zum Fasching.
    »What is that, Fashing ?«
    Die Patrouillenmänner witterten Konspiration und brachten die Maskierten zum nahegelegenen Hauptquartier der Militärpolizei. Der öde Amtsraum füllte sich im Nu mit starren Soldatengesichtern, viele erinnerten mit ihrem Stehhaarschnitt an

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