Der Sieg nach dem Krieg
Gelegenheitsschauspieler und Schriftsteller Walter Kiaulehn, auch er bei der Schaubude verpflichtet, brillierte mit Erlebnissen aus dem Berlin der Zwanzigerjahre; zwei Volltrunkene trugen einen dritten, noch volleren, solidarisch nach Hause wie einen Toten ohne Sarg; ich hatte mich als Tisch kostümiert: schwarze Hose, schwarze Schuhe, schwarze Hemdärmel, schwarze Handschuhe, auf dem Rücken eine Tischplatte mit großem Tischtuch. Berührten meine Hände bei Rumpfbeuge vorwärts den Boden, war ich Tisch, in der Höhe gerade richtig für die Malerin Bele Bachem, umworben in ihrer neuen Kostüm- création, einem Netz, das Durchblick erlaubte.
An der Garderobe gab es Aufregung wegen eines fehlenden Pelzmantels. Gockel plusterten sich zu Imponiergehabe auf, nur das »Mädchen mit dem Koffer«, wie wir sie nannten, stand stumm dabei. Mit Koffer. Verdächtigt wurde sie nicht, da sie selbst einen Pelzmantel trug.
In dieses Lautleben platzten plötzlich mehrere Männer vom Ballett der Staatsoper, grell geschminkt und so gut wie nackt. Die Hinterteile, um die es ihnen ging, zierten lediglich Seile, wie bei den japanischen Sumo-Ringern. Mit geschulten Bewegungen produzierten sie ihre Veranlagung-
Der Pelzmantel blieb verschwunden. Das Mädchen mit dem Koffer stand immer noch an der Garderobe, eine stillverrückte Person, die zu Faschingsbällen — damals eine rein private Angelegenheit — stets in ihrem undefinierbaren Fell und mit dem Koffer erschien. Nach kurzem Blick auf die wogende Gästeschar nahm sie in der hintersten Garderobenecke ihren Mantel ab und hatte nichts darunter. Seelenruhig öffnete sie den Koffer, der von Kostümteilen, Tüchern und Fetzen überquoll, suchte etwas Passendes, das meist etwas Dezentes war, zog es an und drehte sich fast unbemerkt in den Strudel. Vielleicht war sie auch aus Kempten.
Vergleichen wir unsere Feste damals mit späteren, so fällt uns vor allem der überschäumende Spieltrieb auf. Wir haben uns nicht nur verkleidet, wir sind auch in die zum Kostüm gehörende Rolle geschlüpft und haben sie stundenlang durchgehalten. Nur so, aus Spaß. Wir brauchten dazu keinen Alkohol, Stimmung war keine Frage von Stimulantien. Unser Bedürfnis nach Ausgelassenheit kannte keine Ermüdung, wir schwelgten in Wonne von unwiderbringlicher Intensität. Die war schon in Kriegstagen aufgeflackert, wenn man sie gar nicht erwartete.
Ein Volltreffer hatte eine Wohnstraße verändert, eine Hausfassade war weggerissen. Wie beim Puppenheim konnte man in die Zimmer schauen, in Ecken von Zimmern, die es nicht mehr gab. Hier stand ein Stuhl vor der Wand, dort hing ein Bild über dem Abgrund.
Freunde krochen aus dem Keller, fanden eine Leiter, die sie anlehnten, um nachzusehen, was noch zu retten sei. Ihr Hab und Gut lag unter den Trümmern, lediglich eine Kiste fand sich, die vom Himmel, genauer vom nicht mehr vorhandenen Speicher, heruntergefallen war. Was mochte sie enthalten? Faschingsklamotten!
Vor den Augen von Hausbewohnern, die in der Schutthalde nach Resten des angehäuften Bürgerstolzes herumstocherten, fingen die beiden an, sich auf den verbliebenen paar Quadratmetern Parkett zu kostümieren, probierten Hüte auf und Nasen, darunter eine besonders große, häng- ten Bärte um, lachten und tanzten, als sei es ein Glück, nichts mehr zu besitzen, außer dem unbeschadeten Leben. Wie vieles nicht Lebenswichtige, haben Faschingskostüme den Krieg in erstaunlich großer Zahl überdauert. Auch der Inhalt dieser Kiste hat uns durch viele heiße Nächte begleitet. Ständig wechselten die Kostüme ihre Träger. Ein junger Mann tanzte in einer Faschingshose mit der dazugehörenden Jacke, die ein Mädchen trug. Hemden und Blusen wippten den Herzschlag Frischentflammter mit, wechselnde Cyranos de Bergerac schoben die große Pappnase auf die Stirn, hielten einen Augenblick inne und neigten sich als Einhorn zum Kuß.
Jargon und Akzent
D ie Lage der Nation blieb weiterhin ungeklärt. Nation gab’s nicht mehr, dafür jede Menge Lage, und die war vor allem schlecht. Zwar hatte die Zukunft schon begonnen, die Vergangenheit aber noch nicht aufgehört, die Hypotheken blieben spürbar, Heimat und Niemandsland gingen ineinander über, man lebte im Status quo.
Zu diesem Zustand gab es ein Dutzend Blickwinkel aus Standpunkten und Schicksalen. Die Wartenden, auf den Mann, den Freund, die sich noch in Gefangenschaft befanden, Angehörige, deren Spur sich auf der Flucht oder durch einen Bombenangriff verloren
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