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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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Ersinnen von Auswegen. Es war die Sprache der bedienten Gedienten, die die Schnauze voll hatten. Ihr Biß, ihre rüde Genauigkeit, ihr schwarzer Humor rückten sie — der Vergleich mag aufs erste befremden — in die Nähe des Jiddischen, das auch eine Bedientensprache ist, aus schwejkhaftem Widerstand gegen schikanöse Macht und gesundheitsschädliche Politik. Bei der Ganovensprache, dem sogenannten Rotwelsch, verhält es sich ähnlich. Die Idiome sind zum Teil austauschbar.
    Noch lange belieferten Heimkehrer aus der Gefangenschaft den Jargon mit frischen Sprachbildern. Dann erst riß der Nachschub — um im Bild zu bleiben — ab. Ähnlich erging es dem Jiddischen, als aus Galizien niemand mehr nach Westen ziehen durfte.

    Mit der Sprache hatten die Heimkehrer keine Schwierigkeiten. Sie wurden verstanden; die neuen Fremdwörter ließen sich lernen. Das Englische hielt seinen ersten Brückenkopf im Hurenmilieu, ansonsten floß es vorbei. Der sprachliche Landesverrat blieb späteren Generationen vorbehalten, vor allem der Werbung. Schwierigkeiten erwarteten die Nachgelieferten bei den Nächsten, wenn sie merkten, daß sie noch die gleiche, aber nicht mehr dieselbe Sprache sprachen, Kinder zu mageren Fremden Papa sagen sollten und Mütter verstummten, weil sie sich zu früh Zu neuen Ufern — so hieß der letzte Zarah Leander-Film — hinübergerettet hatten.
    Entlassen, nur noch in Träumen gefangen, mit jeder Faser ihres Seins auf das Wiedersehen konzentriert, übersensibel durch Entbehrung und Abgeschnittensein, glaubte mancher schon beim ersten Kuß herauszuschmecken, was sich inzwischen ereignet hatte. Sehnsucht ist eine konservative Größe, die nicht wahrhaben will, daß es weitergeht.
    Ich berichte als Augenzeuge einer solchen glücklichen Heimkehr mit allen schlechten Zutaten. Eine Schulfreundin, seit vier Jahren mit einem Oberleutnant verheiratet und trotz regelmäßiger Heimaturlaube des Angetrauten kinderlos geblieben, hatte die gemeinsame Wohnung samt Inventar über die Zeitenwende hinübergerettet. Sie wußte nicht, wo ihr Mann sich befand, in welcher Verfassung und ob er überhaupt noch am Leben war. Ihr Freundeskreis kannte ihn nur vom Lächeln aus einem Silberrahmen, in voller Uniform. Das Leben allein lief dreigleisig: Grundsätzlich erwartete sie irgendwann ein Lebenszeichen und dann baldige Rückkehr; tapfer bestritt sie den schwierigen Alltag, jonglierte mit einer Lebensmittelkarte für zwei, hamsterte, legte auf die Seite für den Tag X, um ihn gebührend zu empfangen, wenn er plötzlich vor der Tür stehen würde. Daran glaubte sie fest; die Kraft für das lange Warten holte sie sich in Vergessen. Man kann nicht pausenlos Ungewissem entgegenfiebern, der Mensch braucht Unterbrechungen. Selbst im Trommelfeuer sind Soldaten erschöpft eingeschlafen.
    Die potentielle Witwe führte ein fröhliches Haus. Labile Freunde holten sich bei ihr Kraft, starke Schultern standen anlehnungsbereit zur Verfügung. Die Gefahr, das Vergessen körperlich zu vertiefen, schwang immer mit. Sie bestimmte den Reiz, das Klima, das Reizklima in der überdurchschnittlich kompletten Wohnung. Aus unbekannter, offenbar nie versiegender Quelle plätscherte Alkohol, ohne daß je ein Großschieber mit eindeutigem Interesse gesichtet worden wäre. Schallplatten aus amerikanischen Armeebeständen be-swingten die stets anzutreffenden Gäste, Rhythmus setzte die bekannten Eroenergien frei. Man ging gern zu ihr.
    Der Freundeskreis war zufällig entstanden, ein Happening aus Schicksalen. Nicht jeder konnte eine Wiege in Deutschland vorweisen. Aussehen und Akzent von manch einem verrieten Herkunft aus den ehedem ans Großdeutsche Reich angedockten Balkanstaaten. Die Abende begannen naiv-unbeschwert, wenngleich in lauerndem Hinblick auf die späteren Stunden. Dann hatte Penelope alle Hände voll zu tun, um alle Hände abzuwehren, geflüsterte Schwüre bei flüchtigem Lippenbekenntnis zu belassen. Und alle gerade anderweitig Interessierten fragten sich, ob es ihrem Odysseus wohl vergönnt sein werde, den Augiasstall der Freier auszuräumen, bevor ihre Kraft zum Widerstand dahinschwand. Ist doch so manches Ja weniger auf des Werbers Charme als ganz einfach auf Materialermüdung zurückzuführen.
    Alkohol, Rhythmus und stundenlange Gelegenheit bestimmten den Ablauf solcher Abende. Besonders zu Curfew-Zeiten, als man nicht weggehen konnte, aber auch nach dessen Aufhebung am 30. März 1946. Jetzt blieb man aus Gewohnheit, und weil die

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