Der Sieg nach dem Krieg
die Erlaubnis, damit zu fahren, wenn er nicht gerade Arzt war. Boris’ Zweirad fuhr mit Beziehungen, zugelassen auf die Rumänische Delegation, was immer das gewesen sein mochte.
Von dem Discjockey im Sattel waren lediglich Kopf, Hände und Füße sichtbar, Tank und Lenker bedeckte eine sträflich große Kiste, die er mit dem Kinn festhielt. Hinten überragte ihn die Schallwand des Lautsprechers wie das Seitenruder eines Flugzeugs.
Bis die Gäste eintrafen, heizte Boris sich selber ein. Nachher allen. Da er Plattenauswahl, Licht und Lautstärke nicht aus der Hand gab, aber sich gleichzeitig selbst als Tänzer und Platzhirsch betätigte, amüsierten sich alle gemäß Boris’ erotischer Fieberkurve.
War es irgendwo spät geworden und wollte man trotzdem nicht schon ins Bett, grenzte die Vermutung, bei Manfred Eickemeyer könne noch etwas los sein, an Sicherheit. Selbst um drei Uhr früh öffnete der Maler eigenhändig die Tür und zeigte einem, vor dem gewohnten Gewoge im Hintergrund, daß man willkommen sei.
Nicht immer war seine Wohnung in der Leopoldstraße eine Herberge der Lebensfreude gewesen. Manfred Eickemeyer hatte zum Kreis der Weißen Rose, dem studentischen Widerstand um Professor Kurt Huber, gehört. Bei ihm waren 1943 die Flugblätter gedruckt worden, die Hans und Sophie Scholl in der Münchner Universität aus einer Kuppel flattern ließen. Sie wurden, wie bekannt, vom Hausmeister verpfiffen und hingerichtet.
Manfred Eickemeyer mußte untertauchen, die Nazis erwischten ihn schließlich doch, und er saß bis Kriegsende im Gefängnis. Der Hausmeister kam bei seiner Spruchkammerverhandlung am 15. Juni 1946 mit fünf Jahren Arbeitslager skandalös milde davon. Zu dieser Zeit war die Wohnung Eickemeyer für uns Überlebende Fröhlichkeitsadresse Nummer eins.
Hier erschien eines Nachts ohne Begleitung ein Mädchen, das wir umgehend Pampelmuse nannten — für Deutsche eine rare Frucht. Der Name hing mit dem ungewohnten Aufzug zusammen. Kaum hatte sie den Mantel abgelegt, weiteten sich sämtliche männliche Pupillen. Nicht weil sie besonders hübsch war, was zutraf, sondern wegen der Selbstverständlichkeit, mit der sie etwas damals gar nicht Selbstverständliches darbot. Statt einer Bluse, eines Pullovers oder sonst eines gebräuchlichen Kleidungsstücks, trug sie von der Taille aufwärts eine Art Scheuklappe, eine Pampelmusenschale, die einen Busen ungewohnt aber korrekt umschloß, der andere dagegen war sozusagen geschält, er wölbte sich frei den Beschauern entgegen. Das hatte es bisher noch nicht gegeben.
Niemand reagierte. Die Mädchen warteten ab, wie die Männer sich verhalten würden und die wußten noch nicht wie. Keiner lachte, keiner machte eine Bemerkung, jeder schaute hin, doch mit gebremstem Ausdruck, als tue er’s nicht. Pampelmuse gab sich selbstverständlich, sie sprach mit den Männern, die zu ihr traten, sie einbezogen, wie man einen verspäteten Gast auf nimmt.
Einer forderte sie zum Tanzen auf, sie willigte ein. Damals tanzte man auf Nähe, in angezogenem Zustand jedenfalls. Bei Pampelmuse jedoch wahrten er und sämtliche folgenden Tanzpartner artig Abstand. Als sei der Busen elektrisch geladen, vermieden sie jede Berührung, selbst mit Textilien. Keiner lehnte, wie sonst üblich, seine Wange gegen ihre Schläfe, kein Knie kam den ihren zu nahe, der Rhythmus wurde überhört. Von der Blöße des Mädchens abgesehen, erinnerte das gravitätische Gestakse an Familienfeiern, wo karitative Onkels Sieben- bis Zehnjährige aufs Parkett holen und zögerliche Schritte mit übermäßigem Geplauder wettmachen. Nach den Mienen zu schließen, sprachen sie über Schopenhauer, die Bombenschäden an der Asamkirche oder die Hilfe des Roten Kreuzes bei der Suche nach Vermißten.
Pampelmuse nickte gelegentlich, ihrer Unberührbarkeit völlig sicher. Sie war aus Kempten. Während ringsum alles zur Umarmung drängte, bestand diese Gefahr bei ihr überhaupt nicht. Das Ziel vor Augen erübrigte den Weg dort hin. Sie blieb ungeküßt, — wohl die einzige in dieser Nacht. Keiner brüstete sich anderntags, er habe sie nach Hause gebracht, oder zog beiläufig eine Pampelmusenschale aus der Tasche.
Im Fasching wurden die Räume selbstverständlich geschmückt. Schwierigkeiten machte das nicht. Nur Brauchbares war Mangelware, für Dekorationszwecke fand sich immer genug. Boris war schon da und umging den Zähler, der Franzi stand mit einer Girlande auf der Leiter, in etwa einer Stunde würden die
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