Der Siegelring - Roman
haben. Hat Gratia Euch das nicht erzählt?«
»Ich hielt es für übertriebenes Geplapper eines Kindes. Ist es wahr?«
»Fragt Euren Gatten. Oder Falco.«
Nachdenklich nickte Rosina und fragte dann leise: »Hält sich der Hass so lange?«
»Wenn die Tat grausam genug war«, antwortete Annik genauso leise. »Geht nicht alleine zum Wald. Nehmt immer Begleitung mit, Domina. Und - lasst Euch immer bis an das Tor zurückbringen.«
Rosina betrachtete den Wein in ihrem Glas und blieb lange stumm. Dann fragte sie noch einmal: »Warum hast du mich gesucht?«
»Weil Gratia Angst um Euch hatte. Weil ich glaubte, dass ich mich um Euch kümmern sollte. Weil ich Euch in - Gefahr - vermutete.«
Rosina trank aus und erhob sich. Auch Annik stand auf, aber zu ihrer Überraschung trat Rosina zu ihr und umarmte sie.
»Danke, Annik.« Sie schaute ihr intensiv in das Gesicht.
Schließlich sagte sie: »Das ist es wohl, wozu du geboren und erzogen wurdest. Dich um deine Leute zu kümmern. Wer immer sie waren.«
Nur ein flüchtiges Senken der Augenlider verriet Rosina, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte. Und so teilten beide Frauen ihre Geheimnisse miteinander, ohne sie ausgesprochen zu haben. Dieses Wissen war es, das ihre Freundschaft begründete.
Nach jener Nacht erhielt Annik häufig die Einladung in die Villa und damit auch die Gelegenheit, ihre feinen Gewänder zu tragen. Zwei hatte sie inzwischen davon, eine Stola hatte Ulpia Rosina ihr geschenkt, eine weitere, fein gewebte Tunika hatte sie sich selbst kaufen können, denn auch die Beziehung zu dem Hausherrn hatte sich zum Besseren gestaltet, und ihr war endlich der Lohn ausgezahlt worden.
Es war einige Wochen vor jenem Ereignis gewesen, in den ersten Tagen des Frühjahrs, als Valerius Corvus, der den Winter über in der Colonia verbracht hatte, für einen längeren Aufenthalt zu seinem Gut zurückkehrte. Annik war es nicht gelungen, ihn im Herbst noch einmal zu sprechen, und so hatte sie weder ihre Entschuldigung vorbringen noch ihr Arbeitsverhältnis endgültig klären können. Dann aber, zu den Kalenden des April, war der Hausherr unangekündigt in der Töpferei erschienen. Sie war gerade dabei, eine der getrockneten Schüsseln vorsichtig aus der Form zu heben, in die sie sie gedreht hatte, und inspizierte das sich darauf abgebildete Muster aus Weinranken.
»Du leistest recht ordentliche Arbeit, Töpferin Annik!«, sagte er zu ihr, und beinahe wäre ihr die Form entglitten. Valerius Corvus in schlichter Tunika und langen Lederhosen, die Kleidung der Einheimischen, die er gewöhnlich
auf dem Gut trug, wirkte zwar weniger ehrfurchtgebietend als in der Toga, doch die Ausstrahlung von Autorität konnte er nicht verleugnen. Annik begrüßte ihn respektvoll und setzte die Schüssel vorsichtig ab.
»Wo hast du die arretinische Art der Töpferei gelernt?«
»In meiner Heimat gab es einen begabten Töpfer, der in seiner Jugend in den Süden gereist war. Er lernte es dort und gab mir die Kunst weiter. Doch mit seinen Werken kann ich mich nicht messen, genauso wenig wie mit den wahren Künstlern aus Arretium.«
»Vielleicht nicht ganz. Der Glanz der dort gefertigten Ware ist größer, das Rot satter. Aber deine Muster sind sehr ansprechend.«
»Die Domina hat sie für mich entworfen. Dankt ihr dafür. Der Farbglanz jedoch ist eine Frage der Materialien.«
Er betrachtete das Muster und nickte.
»Sind diese Materialien hier nicht zu erhalten?«
»Nur gegen einen sehr hohen Preis, Dominus. Um sie zu beschaffen, fehlt es mir leider an den Mitteln.«
»Blödsinn, du kannst die teuersten Materialien kaufen, die du brauchst. Sie werden allemal billiger sein als fertige arretinische Keramik. Sag Charal, was er besorgen soll.«
»Dann gebt ihm bitte Anweisung, dass er sie auch bezahlen soll, Dominus.«
Irritiert musterte Valerius Corvus sie.
»Das tut er doch sowieso.«
»Den üblichen Ton ja, sofern ich ihn für Eure Zwecke verwende. Nicht aber den für meine eigenen Töpfe und keine außergewöhnlichen Materialien, die nicht mein Vorgänger ebenfalls verwendet hat. Macht ihm keinen
Vorwurf daraus, er handelt korrekt, sofern er keine andere Weisung von Euch hat.«
»Ah, dein Sinn für Gerechtigkeit!«
Ein Anflug von Erheiterung schwang in den Worten des Hausherrn mit.
»Ja, Dominus. Und ich bitte Euch aufrichtig um Verzeihung für meine Anmaßung am letzten Gerichtstag. Ich wusste nicht um die tieferen Zusammenhänge.«
»Vergiss es, Annik. Wie ich hörte, hat
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