Der Siegelring - Roman
Schnittwunden kamen in der Töpferei oft vor.
»Lasst mich die Kratzer damit salben. Keine Angst, ich tue Euch nicht weh.«
»Das würde mir nichts ausmachen. Danke, Annik.«
Als sie den zarten Körper behandelte, fand Annik neben den Abschürfungen und blauen Flecken aber auch einige Male an Hals und Brust, die sie sehr eindeutig als Liebesbisse erkannte. Sie schwieg darüber. Als sie fertig war, reichte sie Rosina die lange Tunika und die Stola.
»Ein schönes Kleid. Ich habe dich noch nie darin gesehen, Annik!«
»Es eignet sich nicht zum Arbeiten, Domina.«
»Nein, das tut es wohl nicht. Aber hast du nie Gelegenheit... ich meine... Oh, entschuldige, nein, du hast wohl nie die Gelegenheit, an unseren Festen teilzunehmen.«
Geschickt befestigte Rosina die Bänder, mit denen die Tunika sich eng um ihre Figur schmiegte. Dann zog sie
die Stola über und befestigte sie mit ihren eigenen Fibeln an der Schulter.
»Woher hast du dieses Kleid?«
»Martius hat es mir im vergangenen Jahr geschenkt. Als wir einen Tag in der Stadt verbrachten.«
»Oh!«, sagte Rosina und setzte sich auf Anniks Bett. Sie biss sich auf die Unterlippe und versank für ein paar Minuten in tiefe Gedanken.
»Was habt Ihr, Domina? Tut Euch noch etwas weh?«
»Nein, entschuldige, Annik. Du liebst - deinen Martius sehr, nicht?«
»Ach, wisst Ihr, Domina, wir kennen uns von Kindheit an. Ich weiß nicht, ob ich ihn liebe. Ich sehe ihn kaum noch, und eigentlich vermisse ich ihn auch nicht besonders.«
»Ich gebe dir das Kleid morgen sofort zurück, Annik.«
»Es eilt nicht. Und nun lasst uns zum Haus gehen, damit nicht noch mehr Leute Euch vermissen.«
»O Juno, ja! Meine Dienerinnen werden Fragen stellen. Ich muss ihnen eine Erklärung geben.«
Wieder biss Rosina sich auf die Unterlippe.
»Na ja, sagt die Wahrheit. Ihr seid bei dem Weihestein gewesen, und wenn Ihr wollt, habt Ihr mich dort getroffen und habt mit mir geplaudert und die Zeit vergessen. Über Eure Irrwege im Wald solltet Ihr schweigen.«
Rosina stand auf.
»Ja, gut, und begleite mich zur Villa.«
»Gerne, Domina.«
Sie gingen den Weg hinauf zum Haus, und als sie an die Tür klopften, öffnete ihnen Mechthild.
»Oh, Domina, endlich seid Ihr hier!«
»Ich war bei unserer Töpferin!«, beschied Rosina sie kurz. »Bring uns etwas Wein in mein Zimmer.«
»Ja, Domina!«
Annik nahm Rosinas Haltung beifällig wahr und folgte ihr die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Es war ein ansprechender Raum, nicht groß, aber mit einer feinen Wandmalerei aus Ranken und Blüten ausgestattet, hatte ein luxuriöses Bett, ein dreibeiniges Marmortischchen und zwei weiße Korbsessel. Ein dreiflammiger Ölleuchter hing von der Decke. Eines der Flämmchen brannte schon, und Rosina entzündete auch die beiden anderen Dochte.
»Setz dich, Annik.«
Sie nahm in einem der Sessel Platz, meinte dann aber: »Ihr solltet kurz bei Gratia hineinschauen, damit sie sich keine Sorgen mehr macht.«
»Ja, das sollte ich. Warte hier, bitte.«
Sie ging in das Nebenzimmer, Mechthild kam mit zwei gläsernen Pokalen und einem Krug weißen Wein. Sie hatte Fragen in den Augen, aber Annik schickte sie ohne Antworten wieder fort. Rosina kam zurück und goss Wein für sie beide ein.
»Sie ist beruhigt. Gratia ist ein liebes Mädchen!«
»Das ist sie wirklich.«
»Du kennst dich gut in den Wäldern aus, Annik.«
Die Aussage war zu beiläufig gemacht, als dass Annik nicht daraus die Absicht hörte.
»Ich gehe oft da hin, wenn ich alleine sein will.«
»Du triffst niemand dort?«
»Doch, hin und wieder begegnen mir ein paar Menschen. Manche sammeln Beeren oder Kräuter, Holz oder Honig, Pilze oder Nüsse. Der Wald ist reich, wisst Ihr.«
»Ich habe mir nie viele Gedanken darüber gemacht. Dort, wo ich herstamme, gibt es solche Wälder nicht.«
»Auch nicht da, wo ich her bin, Domina. Aber es ist schon richtig, dass Ihr nicht wie ich darin herumstreift. Ihr seid eine Dame, eine Herrin.«
»Eine Römerin. Ja, ich verstehe. Annik, waren es Menschen, die mich in den Wald gelockt haben?«
»Möglich.«
»Warum?«
»Um Euch Angst zu machen, denke ich.«
»Um mich umzubringen«, sagte Rosina mit nüchternem Ton.
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Oder zu vergewaltigen.«
Annik schwieg. Es hieß, dass die im vergangenen Herbst in die Irre geleiteten Frauen des Senators dieses Schicksal erlitten hatten.
»Wer sind diese Menschen, die uns das antun?«
»Nachfahren derer, die römische Legionen niedergemetzelt
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