Der Siegelring - Roman
Aber ich denke, dass ich sie finde.«
Widerwillig gehorchte das Mädchen, und Annik zog sich eine weitere wollene Tunika über, schnürte ihre festen Schuhe und legte sich eine Palla über Kopf und Schultern. Sie verließ das Grundstück jedoch nicht durch das Haupttor, sondern durch die nördliche Pforte, die gewöhnlich dazu diente, die Tiere auf die dahinter liegenden Weiden zu treiben. Sie ließ das Tor unversperrt und hoffte, dass Charal es nicht bemerkte.
Ein holpriger Weg durchschnitt die mit wilden Apfelbäumen bestandenen Wiesen. Dunst hatte sich in den Senken gesammelt, und hinter den Wipfeln des Waldes war die Sonne bereits untergegangen. Doch der Himmel war noch von hellem, blassem Blau, und ein weißer Vollmond stand hoch im Zenit. Es würde eine kühle Nacht werden. Von den Regenfällen der letzten Tage war der Boden aufgeweicht, und es fanden sich in der Tat Hufspuren vor dem Tor. Pferdehufe waren es, nicht die der Rinder. Ein Reiter hatte sich hier aufgehalten, genagelte Stiefelspuren zeigten ihr, dass er abgestiegen war. Aber ob Rosinas zierlichere Fußspuren in dem schlammigen Boden ebenfalls Abdrücke hinterlassen hatten, konnte Annik nicht mehr feststellen. Wenn der Reiter ihr Liebhaber war, würde er sie wohl nicht im Schmutz stehen gelassen, sondern sie auf sein Pferd gehoben haben.
Die Hufspur führte zum Waldrand. Dort aber verlor sie sich auf einem steinigen Abschnitt, und das Licht war hier zu schwach, um nach anderen Hinweisen Ausschau zu halten. Immerhin, Annik kannte inzwischen auch diesen Bereich des Waldes und wusste von der einen oder anderen verborgenen Stelle, die an so manchen Feiertagen von Liebespaaren gerne aufgesucht wurde. Sie suchte sie auf und rief nach Rosina. Doch die Wälder schwiegen. Wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie sich tiefer zwischen die alten Bäume wagte, markierte Annik
die Stellen mit Gräsern und Blüten, an denen sie die Richtung wechselte.
Es wurde dunkler, die ersten Nachtjäger huschten über den Weg, flohen vor ihren vorsichtigen Schritten. Einmal leuchteten die Augen eines Waldkaters gespenstisch über ihr von einem Ast herunter, und eine große Eule glitt lautlos vor ihr zwischen den Stämmen hindurch. Wieder blieb sie stehen und lauschte. Außer den natürlichen Lauten wie Blätterrascheln, das Knarren alter Äste, trockenes Knacken und leises Wispern war nichts zu hören. Sie ging weiter, schreckte einmal zusammen, als der Todesschrei eines Beutetieres die Stille durchschnitt. Der Dunst begann nun bis in den Wald einzudringen, und in dem fahlen Licht, das der Mond bewirkte, erschienen knorrige Baumstümpfe wie lebende Wesen, mochten sich im Unterholz die Elben verstecken, von denen nicht nur Cullen, sondern auch die Germanen zu berichten wussten. Geschöpfe, die den Menschen nicht immer wohlwollend gesonnen waren und sie gerne in die Irre führten. Annik war nicht frei von dem Glauben an diese Geister. Seit ihrer Kindheit hatte sie die Geschichten über diese heimlichen Völker gehört, auch wenn sie sie unter anderem Namen kannte. Aber sie war eine mutige Frau und wollte, wenn nötig, den Geistern trotzen. Laut rief sie erneut nach Rosina.
War da nicht ein leises Schluchzen zu hören? Oder war es der Laut eines Tieres?
Sie rief wieder. Das Schluchzen war verstummt. Ein paar Äste ordnete sie auf dem Boden zu einem Pfeil an und nahm die Richtung, aus der sie das Geräusch vermeinte, gehört zu haben. Beinahe alle fünf, sechs Schritte hinterließ sie ein Zeichen, denn der weißliche Dunst war dichter geworden. Darum kam sie nur langsam voran.
»Ulpia Rosina! Ich bin es, Annik! Wo seid Ihr?«
Ein keckerndes Lachen antwortete ihr. Sie blieb stehen, und ein kalter Schauder rann ihr über den Rücken. Mensch oder Elb? Tier oder Geist? Sie atmete tief durch.
»Rosina!«
Ein Schrei wie aus höchster Not erklang rechts von ihr. Sie drehte sich um. Es raschelte, als ob jemand mit eiligen Schritten davonlief. Leise verfluchte Annik den Umstand, dass sie nicht einmal eine Waffe mitgenommen hatte. Sie sah sich um und fand einen handlichen Knüppel. Dann ging sie den Geräuschen nach. Kurz darauf blieb sie stehen. Eine Sandale lag auf dem Boden vor ihr. Rosinas, wenn sie nicht alles täuschte. Sie lauschte, und diesmal waren es hektische Atemzüge, die sie hörte. Ganz in ihrer Nähe.
»Ulpia Rosina, Domina! Wo seid Ihr? Ich bin es, Annik, die Töpferin. Ich suche Euch. Gebt mir Antwort.«
»Annik?«
Ganz leise kam die Frage.
»Wo seid Ihr,
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