Der Siegelring - Roman
gerne.«
»Außerdem kannst du vorher mit ins Badehaus kommen, wenn du Lust hast.«
Auch diese Vergünstigung hatte sich in den vergangenen Monaten ergeben. Rosina hatte Annik erlaubt, mit den Hausangestellten zusammen die Bäder zu nutzen. Sie nahm diesen Luxus jedoch nicht oft in Anspruch. Ihre Zeit ließ das häufig nicht zu, und das kalte Bad in dem Bottich in ihrer Hütte musste meistens reichen. Aber vor dem Fest würde sie gerne ein gründliches, heißes Bad nehmen, sich salben und parfümieren und sich vor allem in aller Muße die langen Haare waschen.
Am späten Nachmittag, nachdem sie Ordnung in der Werkstatt und ihrem Haus geschaffen hatte, machte sich Annik für das Bad bereit. Sie öffnete die Truhe, in der sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte, und entnahm ihr eine dünne Leinentunika, die blaue Stola sowie Brustband und Schurz, die Kleidungsstücke, die gewöhnlich unter den Gewändern getragen wurden. Sie wickelte alles in ihre Palla und überlegte dann. Ein feierlicher Anlass verlangte auch Schmuck, und der einzige, den sie besaß, steckte in einem Lederbeutelchen. Der Siegelring mit dem Pferdchen sollte heute ihre Hand zieren, beschloss sie. Den Lederbeutel, eingewickelt in alte Lumpen mit jenem anderen kostbaren Ring, berührte sie nicht einmal. Es stand ihr nicht an, ihn zu tragen. Sie schloss die Truhe mit einer entschiedenen Bewegung.
Mit ihrem Kleiderbündel unter dem Arm betrat sie kurz darauf den Umkleideraum am Eingang des Badehauses. Als sie die Sandalen auszog, merkte sie, dass der Fußboden warm war. Durch das Hypocaustum zog die heiße Luft, die auch die Bäder beheizte.
»Hab ich mir doch gedacht, dass du erst spät kommst!«
Gratia, ebenfalls barfuß und nur mit einem kurzen Hemd bekleidet, kam aus dem Gymnastikraum nebenan.
»Ich wollte niemandem im Weg sein.«
»Na, mir bist du nicht im Weg. Ich habe meine Übungen gemacht, und jetzt will ich mir die Haare waschen. Hilfst du mir?«
»Gerne. Ich will meine ebenfalls waschen.«
»Dabei helfe ich dir genauso. Komm mit ins Caldarium, ich habe den Dienern gesagt, sie sollen noch einen Kessel mit heißem Wasser bereitstellen. Das Schwitzbad ist inzwischen eh schon kalt geworden.«
Annik zog sich aus und folgte dem Mädchen in den warmen Baderaum, der hauptsächlich von einer gewaltigen Wanne aus schwarzem Marmor beherrscht wurde. Ein Mosaik schmückte den Boden, die Wände waren hellblau grundiert und zeigten Muster von Fischen und seltsamen Wasserpflanzen. Auf den Wandborden standen Glasfläschchen mit duftenden Ölen, Tiegel mit feinen Salben, Parfümflakons und andere Kosmetikartikel. Auch ein bronzener Handspiegel war da, und Annik warf einen kritischen Blick hinein. Von der Kratzspur war nichts mehr zu sehen, die Wunde war sauber abgeheilt. Gratia war schon dabei, sich einzuölen, um anschlie ßend mit dem Schaber die Haut zu säubern. Annik fand diese Art der Körperreinigung ungewöhnlich, sie hätte das Waschen mit Wasser vorgezogen. Aber auch sie griff zu Ölbehälter und Schaber.
»Ursa hat Rosenduft hinzugemischt. Schön, nicht?«, sagte Gratia und wischte sich die Hände ab. »Und aus Colonia haben wir hier eine Balsam-Mischung mit Amber und Myrrhe. Das ist mir aber zu schwer. Rosina wird es mögen.«
»Dann soll sie es für sich behalten, mir ist es auch zu
süß. So, und jetzt mach deine Haare auf, damit ich sie dir waschen kann.«
Gratia ging zu dem kleinen Becken in der Ecke des Raumes und beugte sich darüber. Ihre Haare waren lang, schwer, dunkelbraun und glatt und reichten ihr bis fast zur Taille. Es brauchte seine Zeit, sie vollständig zu waschen, auszuspülen und anschließend zu entwirren. Während Annik sie ihr auskämmte, brachte eine Dienerin mehrere Kannen heißes Wasser herein und befüllte damit die Wanne. Dann wusch Annik sich mit Gratias Hilfe die Haare und gemeinsam stiegen sie in das dampfend heiße Bad. Träge genossen sie die Hitze und schwiegen. Als das Wasser langsam kühler wurde, schüttelte Gratia ihre Haare aus, steckte sie mit zwei Haarnadeln auf dem Kopf fest und fragte: »Hast du dir die Haare überhaupt jemals geschnitten, Annik?«
»Nein. Oder doch - als ich ein Kind war. Ich war ziemlich wild, weißt du, und einmal habe ich mir so heftig den Kopf angeschlagen, dass sie durch das Blut ganz verklebt waren. Damals hat meine Mutter sie mir abgeschnitten. Aber seither wachsen sie einfach.«
»Wenn wir in der Colonia sind, Rosina und ich, dann suchen wir regelmäßig einen der
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