Der Siegelring - Roman
römischen Haarkünstler auf. Er schneidet sie mir gewöhnlich ein Stück ab, er sagt, dann wachsen sie dichter. Aber ich hätte sie gerne so lang wie du.«
Annik hob die blonde Masse, die über den Wannenrand hing, mit einem Arm hoch und prüfte, ob sie schon trocken war. Sie waren es und fielen, als sie aufstand, in Wellen bis zu den Oberschenkeln. Sie wollte nach dem Handtuch greifen, um sich abzutrocknen, doch als sie sich umdrehte, sah sie Valerius Corvus in der Tür stehen. Er war nur mit einem Leinenschurz bekleidet und hatte offensichtlich vor, sein Bad zu nehmen. Zum ersten
Mal sah Annik die anderen Narben, die sich quer über seine breite Brust zogen. Sie wollte den Blick senken, um ihn nicht wieder unhöflich anzustarren, doch diesmal war er es, der seine Augen nicht von ihr wendete. Er betrachtete sie schweigend. Dann wandte er sich mit einem Ruck um und verließ den Raum.
»Oh, war das Vater?«
»Ja, das war dein Vater. Ich hoffe, er nimmt es mir nicht übel, dass ich euer Bad benutze.«
»Nein, das wird er nicht. Rosina hat es ja erlaubt.«
Gratia war aus der Wanne gestiegen und hatte sich in ihr Handtuch gehüllt. Annik tat es ihr gleich.
»Annik?«
»Ja?«
»Magst du ihn?«
Annik sah das Mädchen an.
»Warum fragst du mich das?«
»Weil... weil es gut wäre.« Energisch zog sie an ihrem Tuch und sagte mit ganz anderer Stimme: »Ist auch egal, gehen wir uns im Umkleideraum anziehen. Ich habe die Bänder für dich dabei.«
Annik hätte gerne über die Bemerkung nachgedacht, aber Gratia plapperte und verlangte ihre Meinung zu modischen und kosmetischen Dingen, und so schob sie ihre Gedanken zur Seite. Während sie sich mit dem Mädchen unterhielt, legte sie den Hüftschurz und die Brustbinde an und zog die lange, gefältelte Tunika aus dünnem, weißen Leinen darüber. Gratia half ihr, sie unter der Brust und in der Taille hochzubinden, dann legte sie das blaue Gewand und die Stola an und befestigte sie mit den mit blauen Glasperlen verzierten Bronzefibeln, die sie von einem Händler auf dem Markt erstanden hatte. Mit Gratias Bändern umwand sie ihre Taille, flocht ihre langen Haare zu einem Zopf und
steckte ihn, wie üblich, zu einem dicken Knoten im Nacken auf.
»Was hast du hier drin?« Gratia hob das Lederbeutelchen hoch, das bei Anniks Kleidern lag.
»Schmuck, den ich heute tragen möchte.«
»Oh, zeig mal.«
Annik holte den Siegelring heraus und reichte ihn Gratia.
»Ach, ist der hübsch. Ein Pferdchen! Und was steht da drin? Warte mal, das heißt: ›AD PERPETUAM MEMORIAM‹ - Zum immerwährenden Gedenken. An wen sollst du denken?«
»An einen Tag in Colonia. Ich bekam ihn an dem Tag, an dem Falco mir vorschlug, hier als Töpferin zu arbeiten.«
»Oh, ich weiß. Den hat dir Falco geschenkt?«
»Nein. Martius.«
»Ach ja, dein Freund. Der ist schon lange nicht mehr hier gewesen. Oder trefft ihr euch heimlich?«
»Er ist schon lange nicht mehr hier gewesen. So, und nun lass uns gehen. Irgendwann will dein Vater in Ruhe das Bad benutzen und nicht von uns zwei Schnattergänsen gestört werden.«
Sie legte sich die Palla um und verließ das Badehaus.
Die Riten zu Ehren Jupiters, seiner Gemahlin Juno und seiner klugen Tochter Minerva fanden im Lararium des Hauses statt, einer Halle im Eingangsbereich, in der in den Wandnischen die Hausgötter, die Laren, standen. Heute war der ansonsten leere Altar mit einer Feuerschale mit glühender Kohle und Blumengirlanden hergerichtet. Alle Mitglieder des Haushaltes hatten sich dort versammelt. Rosina nickte Annik zu, blieb aber an ihrem Platz in der Nähe des Altars stehen, Annik selbst
hielt sich im Hintergrund zwischen Ursa und Mechthild. Sie warteten schweigend auf den Hausherrn, der die Zeremonie leiten würde.
Valerius Corvus trat ein, ihn umgab der reiche Faltenwurf seiner purpurgesäumten Toga, doch anders als am Gerichtstag hatte er heute sein Haupt verhüllt. Er blieb einen Moment still vor dem Altar stehen, dann hob er die Hände und grüßte die Hausgötter. Es gab ritualisierte Antworten, die von allen gesprochen wurden. Doch Annik, die sie nicht kannte, blieb stumm. Dennoch berührte sie die schlichte Zeremonie. Valerius Corvus hatte eine tiefe, tragende Stimme, und die Gebete, die er sprach, seine ruhigen Gesten und Handlungen zogen sie in ihren Bann. Er huldigte den Göttern, die er und sein Haushalt verehrten, mit Ernst und Hingabe. Das Opfer, das er ihnen brachte, bestand aus Weihrauch und Wein, und bald zogen duftende
Weitere Kostenlose Bücher