Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Beschreibungen bekommen – übrigens per Fax, das macht man doch heutzutage nicht mehr. Ich hatte darum gebeten, die Angaben per E-Mail zu erhalten, und wissen Sie, was die Antwort war? ›Das haben wir noch nie so gemacht.‹ Stellen Sie sich das bitte vor! Eine der am besten ausgerüsteten Polizeitruppen der Welt benutzt noch das Fax!«
Savoy rutscht ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. Er ist nicht hier, das Für und Wider moderner Technologien zu diskutieren.
»Gehen wir an die Arbeit«, sagt Dr. Morris, der es bei Scotland Yard zu einiger Berühmtheit gebracht hat und der nun als Pensionär in Südfrankreich lebt und wahrscheinlich genauso froh ist wie Savoy, aus der langweiligen Routine der Lektüren, der Konzerte, der Wohltätigkeitstees und -dinners ausbrechen zu können.
»Da ich nie noch nie einen Fall wie diesen hatte, wüsste ich vorab gern, ob Sie meine These teilen, dass wir es mit einem einzelnen Täter zu tun haben. Nur damit ich weiß, ob ich mit meiner Prämisse richtigliege.«
Dr. Morris gibt ihm insofern recht, als drei Morde mit mehreren gemeinsamen Eigenschaften theoretisch reichen, um von einem Serienmörder ausgehen zu können, der normalerweise in einem klar beschränkten Raum (in diesem Fall Cannes) agiert und...
»Während ein Massenmörder...«
Dr. Morris unterbricht ihn und ermahnt ihn, keine unkorrekten Bezeichnungen zu benutzen. Massenmörder seien Terroristen oder unreife Heranwachsende, die eine Schule, einen Imbiss stürmen, auf alles schießen, was sie sehen, und am Ende von der Polizei getötet werden oder sich selber töten. Sie benutzen vorzugsweise Feuerwaffen oder Bomben, um möglichst großen Schaden in möglichst kurzer Zeit anzurichten – gemeinhin in weniger als zwei, drei Minuten. Diese Leute scheren sich nicht um die Folgen ihrer Taten – weil sie das Ende der Geschichte bereits kennen.
»Im kollektiven Unterbewusstsein ist ein Massenmörder einfacher zu akzeptieren, weil er ›geistig verwirrt‹ ist und sich daher deutlicher von ›uns‹ unterscheidet. Beim Serienmörder ist das sehr viel komplizierter, denn bei ihm kommt der Zerstörungstrieb, den jeder Mensch in sich hat, zum Tragen.«
Er hält inne.
»Haben Sie schon einmal Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson gelesen?«
Savoy erklärt, er komme neben der Arbeit kaum zum Lesen. Der Blick von Dr. Morris wird eisig.
»Und glauben Sie etwa, ich arbeitete nicht?«
»N-n-nein, das wollte ich damit nicht sagen. Hören Sie, Monsieur Morris, ich bin in einer dringenden Angelegenheit hier. Ich möchte weder über Fachbücher noch über Literatur mit Ihnen diskutieren. Ich hätte gern gewusst, welche Schlüsse Sie aus den Berichten gezogen haben.«
»Tut mir leid, aber in diesem Fall müssen wir uns der Literatur zuwenden. In Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde geht es nämlich um einen vollkommen normalen Mann, Dr. Jekyll, der in bestimmten Augenblicken von unkontrollierbaren zerstörerischen Neigungen übermannt wird und zu einem anderen, amoralischen Menschen wird, Mr. Hyde. Wir alle haben diese Neigungen, Herr Inspektor. Ein Serienmörder bedroht nicht nur unsere Sicherheit, sondern auch unsere psychische Gesundheit. Denn ob es uns gefällt oder nicht, jeder Mensch auf dieser Erde trägt ein ungeheures zerstörerisches Potential in sich und würde oft gern den von der Gesellschaft am meisten unterdrückten Wunsch ausleben – einem andern das Leben zu nehmen.
Die Gründe, die dazu führen, dass jemand zum Mörder wird, können vielfältig sein: ein Bedürfnis, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, ein Racheakt für etwas weit Zurückliegendes, Frühkindliches, lange aufgestauter Hass auf die Gesellschaft usw. Aber ob bewusst oder nicht, jeder Mensch hat schon einmal mit diesem Gedanken gespielt.«
Abermaliges beredtes Schweigen.
»Ich nehme an, Sie kennen dieses Gefühl genau. Und das ganz abgesehen von Ihrem Beruf. Auch Sie werden doch irgendwann eine Katze oder ein harmloses Insekt gequält haben...«
Nun ist es an Savoy, den eisigen Blick von vorhin zu erwidern. Morris allerdings interpretiert das Schweigen als Zustimmung und fährt genauso entspannt und herablassend fort wie zuvor:
»Glauben Sie nicht, einen sichtbar aus dem seelischen Gleichgewicht geratenen Menschen mit zerzaustem Haar und hasserfülltem Grinsen im Gesicht zu finden. Wenn Sie doch noch mal zum Lesen kommen – auch wenn Sie immer sehr eingespannt sind –, würde ich Ihnen ein Buch
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