Der Sieger bleibt allein (German Edition)
am Eingang. »Wohin wird er gebracht?«
Der Mann nennt ihr den Namen eines Krankenhauses. Ohne weiter nachzudenken, rennt Maureen los, um ein Taxi zu bekommen. Zehn Minuten später hat sie begriffen, dass es in der Stadt keine Taxis gibt, nur die, die dank großzügiger Trinkgelder von den Hotelportiers gerufen werden. Da sie dafür kein Geld übrig hat, geht sie mit dem Stadtplan, den sie immer bei sich trägt, in eine Pizzeria, und erfährt, dass sie zum Krankenhaus zu Fuß mindestens eine halbe Stunde brauchen wird.
Sie ist ihr ganzes Leben gelaufen, da würde ihre diese halbe Stunde auch nichts ausmachen.
12 Uhr 53
»Guten Morgen.«
»Guten Tag«, entgegnet eins der anderen Mädchen. »Es ist schon nach zwölf.«
Genau, wie Gabriela es sich vorgestellt hat. Fünf junge Frauen, die alle so ähnlich aussehen wie sie, aber im Gegensatz zu ihr geschminkt sind, mit kurzen Röcken, provozierenden Dekolletés, alle mit ihren Handys und ihrem Text beschäftigt.
Sie reden nicht miteinander, denn sie sind sich so vertraut wie Geschwister: Alle haben die gleichen Schwierigkeiten durchgemacht, klaglos die Nackenschläge hingenommen, sich den gleichen Herausforderungen gestellt. Alle wollen daran glauben, dass ein Traum kein Verfallsdatum hat. Das Leben kann sich von einem Augenblick auf den andern radikal verändern, es wird nur ihre Willenskraft auf die Probe gestellt, der richtige Augenblick wartet auf sie.
Die anderen haben sich wahrscheinlich auch mit ihren Eltern entzweit, die glaubten, ihre Tochter würde in der Prostitution enden.
Sie haben alle schon auf der Bühne gestanden, die Todesqualen ausgestanden und die ekstatischen Augenblicke erlebt, wenn sie vor das Publikum treten und alle Blicke auf sich gerichtet fühlen. Sie alle haben die knisternde Spannung gespürt und den Applaus am Ende gehört. Alle haben sich Hunderte von Malen vorgestellt, dass irgendein Angehöriger der Superklasse im Publikum säße, nach der Vorstellung in die Künstlergarderobe käme und mehr zu bieten hätte als nur eine Einladung zum Abendessen und ein Lob für die geleistete Arbeit.
Alle haben schon ein oder zwei dieser Einladungen angenommen, bis sie begriffen haben, dass solche Einladungen immer im Bett eines in der Regel älteren, mächtigen Mannes endeten, der ausschließlich an einer Eroberung interessiert war. Und fast immer verheiratet war, wie jeder interessante Mann.
Alle haben einen gleichaltrigen Freund, aber wenn jemand sie nach ihrem Familienstand fragt, sagen sie immer: »Frei und ungebunden.« Alle finden, dass sie ihr Leben gut im Griff haben. Alle haben Hunderte von Malen gehört, sie hätten Talent, ihnen fehle nur eine Gelegenheit und jetzt hätten sie die Person vor sich, die ihr Leben vollkommen verändern werde. Alle sind schon darauf hereingefallen und haben geglaubt, Herrinnen der Lage zu sein, bis sie merkten, dass die Telefonnummer, die sie erhalten hatten, die einer schlechtgelaunten Sekretärin war, die den Anruf unter keinen Umständen zu ihrem Chef durchstellen wollte.
Alle haben schon gedroht, zu erzählen, wie sie betrogen wurden, und die Story an die Klatschpresse zu verkaufen. Keine von ihnen hatte es letztlich getan, denn da waren sie bereits in dem Stadium, in dem sie dachten: »Ich kann es mir nicht leisten, es mir mit der Kunstszene zu verderben.«
Möglicherweise hatte die eine oder andere schon die Prüfung hinter sich, die für Gabriela die Aufführung von Alice im Wunderland gewesen war, und wollte jetzt den Eltern beweisen, dass sie zu mehr fähig war, als diese ihr zutrauten. Die Eltern haben ihre Tochter inzwischen bereits in Werbespots und auf Plakaten gesehen und sind überzeugt, dass ihre Tochter bald zu Ruhm und Glamour kommen wird.
Alle diese Mädchen denken, ihr Traum würde wahr, ihr Talent eines Tages anerkannt werden, bis sie begreifen, dass es in diesem Berufszweig nur ein Zauberwort gibt:
›Kontakte.‹
Gleich nach ihrer Ankunft in Cannes haben alle ihre Books verteilt. Und seither starren sie ständig auf ihre Mobiltelefone, gehen zu Veranstaltungen, zu denen sie Zutritt haben, und tun alles, um auch Zutritt zu jenen zu erhalten, zu denen sie keine Einladung haben: Sie träumen davon, dass jemand sie zu einer der offiziellen Partys einlädt oder ihnen sogar den absoluten Hauptgewinn beschert: auf dem roten Teppich in den Palais des Congrès zu schreiten. Doch die Erfüllung dieses Traums liegt in so weiter Ferne, dass sie ihn sich
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