Der Sieger bleibt allein (German Edition)
lesen, was auf dem Textblatt steht.
»Test Nummer fünfundzwanzig, Gabriela Sherry, Agentur Thompson.«
»Fünfundzwanzig?«
»Action«, sagt die Frau mit der Brille.
Im Raum herrscht vollkommene Stille.
»Nein, das glaube ich dir nicht. Niemand begeht grundlos einen Mord.«
»Noch einmal von vorn. Du sprichst mit deinem Freund.«
»Nein, das glaube ich dir nicht. Niemand begeht einfach nur so, grundlos einen Mord.«
»›Einfach nur so‹ kommt im Text nicht vor. Glaubst du, der Drehbuchautor, der monatelang daran gearbeitet hat, hätte nicht auch daran gedacht, ›einfach nur so‹ in den Satz einzufügen? Und er hätte es nicht eingefügt, weil er es für oberflächlich und überflüssig gehalten hat?«
Gabriela atmet tief durch. Sie hat nichts mehr zu verlieren, allenfalls die Geduld. Sie wird jetzt machen, was sie für richtig hält: den Raum verlassen, an den Strand gehen oder nach Hause zurückkehren und noch etwas schlafen, um für die Cocktails am Nachmittag fit zu sein.
Eine seltsame, wunderbare Ruhe überkommt sie. Unvermittelt fühlt sie sich beschützt, geliebt, ist dankbar dafür, am Leben zu sein. Niemand zwingt sie, hierzubleiben, weitere Erniedrigungen über sich ergehen zu lassen. Zum ersten Mal in all diesen Jahren ist sie sich einer Kraft bewusst, die sie nie in sich vermutet hätte.
»Nein, das glaube ich dir nicht. Niemand begeht grundlos einen Mord.«
»Nächster Satz.«
Die Anweisung ist überflüssig. Gabriela würde so oder so weitermachen.
»Wir sollten zum Arzt gehen, ich glaube, du brauchst Hilfe.«
»Nein«, übernimmt die Frau mit der Brille die Rolle des Freundes.
»Also gut. Wir gehen nicht zum Arzt. Wir machen einen Spaziergang, und du erzählst mir genau, was los ist. Ich liebe dich. Wenn es auch niemanden sonst auf der Welt interessiert, was mit dir los ist, mir ist es wichtig.«
Der Text ist zu Ende. Es herrscht Stille. Eine seltsame Energie erfüllt den Raum.
»Sag dem Mädchen, das noch draußen wartet, es kann gehen«, befiehlt die Frau mit der Brille einem der Anwesenden.
Deutet Gabriela das richtig?
»Geh links den Strand entlang. Am Ende der Croisette gegenüber der Allée des Palmiers ist ein Jachthafen. Dort erwartet dich pünktlich um dreizehn Uhr fünfundfünfzig das Boot, das dich zu einem Treffen mit Mr. Gibson bringt. Wir schicken ihm jetzt das Video, aber er möchte die Leute, mit denen er möglicherweise zusammenarbeiten wird, persönlich kennenlernen.«
Ein Lächeln erscheint auf Gabrielas Gesicht.
»Ich sagte ›möglicherweise‹. Ich habe nicht ›arbeiten wird‹ gesagt.«
Dennoch lächelt Gabriela immer weiter. Gibson!
13 Uhr 19
Zwischen Inspektor Savoy und dem Gerichtsmediziner liegt auf einem Tisch aus Edelstahl eine etwa 20-jährige schöne Frau, die vollkommen nackt ist.
Und tot.
»Sind Sie sich ganz sicher?
Der Gerichtsmediziner tritt an ein Waschbecken, es ist ebenfalls aus Edelstahl. Er zieht die Handschuhe aus, wirft sie in einen Mülleimer und dreht den Wasserhahn auf.
»Ganz sicher. Keine Spur von Drogen.«
»Was ist dann passiert? Ein so junges Mädchen hat doch keinen Herzinfarkt.«
Im Raum ist nur noch das laufende Wasser zu hören.
»Die von der Polizei denken immer an das Offensichtlichste: Drogen, Herzinfarkt, solche Dinge.«
Er nimmt sich mehr Zeit als sonst, um sich die Hände zu waschen – seine Arbeit kann ein bisschen Dramatik ganz gut vertragen. Er wirft den Einwegkittel, den er bei der Autopsie getragen hat, in den Müll.
»Schauen Sie sie sich an! Ganz genau, ganz ohne Scham. Es gehört zu Ihrer Arbeit, auf Details zu achten.«
Savoy schaut sich die Leiche genau an. Irgendwann streckt er die Hand aus, um einen der Arme zu heben, doch der Gerichtsmediziner hält ihn zurück.
»Sie brauchen sie nicht zu berühren.«
Savoys Blick geht über den nackten Körper der jungen Frau. Inzwischen weiß er schon eine ganze Menge über sie – Olivia Martins, Tochter portugiesischer Eltern, ihr Freund hatte keinen festen Beruf, war ein Nachtschwärmer. Er wird in diesem Augenblick gerade woanders verhört. Ein Richter hatte eine Hausdurchsuchung angeordnet, bei der kleine Flakons mit thc gefunden wurden. (Tetrahydrocanabinol ist der Hauptwirkstoff von Marihuana, das heutzutage auch mit Sesamöl vermischt wird, weil es dann keinen Geruch hinterlässt und zudem eine viel größere Wirkung hat, als wenn man es raucht.) Sechs Briefchen mit jeweils einem Gramm Kokain. Blutspuren auf dem Bettlaken, das
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