Der Sieger bleibt allein (German Edition)
wegzuschaffen‹. Das war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Am nächsten Morgen war sie früher als sonst in ihre Boutique gefahren und hatte nach der Arbeit noch bis spät in die Nacht zu Hause am Computer gesessen. Sie wollte unbedingt vermeiden, diese eine Frage zu stellen. Ein paar Monate lang hatte ihr das übliche Programm – Reisen, Messen, Abendessen, Treffen, Wohltätigkeitsversteigerungen – geholfen. Manchmal hatte sie sogar gedacht, sie hätte den Satz ihres Mannes damals in Irkutsk missverstanden, und sich Vorwürfe gemacht, vorschnell geurteilt zu haben.
Im Laufe der Zeit hatte die Frage an Bedeutung verloren, bis zu jener Wohltätigkeitsgala in einem der besten Restaurants in Mailand. Beide waren aus verschiedenen Gründen in der Stadt: Igor, um Einzelheiten eines Vertrages mit einer italienischen Firma zu regeln, Ewa zur Mailänder Modewoche, auf der sie für ihre Boutique in Moskau einkaufen wollte.
Was zuvor im fernen Sibirien geschehen war, wiederholte sich in der eleganten italienischen Metropole. Ein angetrunkener gemeinsamer Bekannter setzte sich unaufgefordert an ihren Tisch und führte sich ungehörig auf. Ewa merkte, wie Igors Hand sich fest um den Messergriff schloss. Sie versuchte, den Bekannten so höflich wie möglich wegzuschicken. An dem Abend hatte sie bereits ein paar Gläser Asti spumante getrunken. Früher hatten die Italiener diesen Schaumwein ebenfalls Champagner genannt, aber wegen des markenrechtlichen Schutzes oder der kontrollierten Herkunftsbezeichnungen durften sie ihn nicht mehr so nennen. Champagner war ein Wein aus einem genau bestimmten Anbaugebiet, eben der Champagne, wo er nach einem bestimmten Herstellungsverfahren produziert wurde. Spumante war letztlich das Gleiche, nur wurde er eben nicht in Frankreich, sondern in Italien hergestellt.
Sie begannen ein Gespräch über Champagner, seine Herstellung und die Bedingungen, unter denen ein Schaumwein Champagner genannt werden durfte. Es kam Ewa sehr gelegen, um jene Frage zu verdrängen, die sich ihr plötzlich wieder mit Macht aufdrängte. Während sie sich unterhielten, trank sie weiter. Bis zu jenem Augenblick, an dem sie sich nicht mehr beherrschen konnte:
»Aber war ist denn schon dabei, wenn sich jemand ungehobelt benimmt und uns stört?«
Igors Stimme hatte plötzlich ganz anders geklungen, als er antwortete:
»Wir reisen selten zusammen. Wir verbringen so wenig Zeit miteinander. Und du weißt ja, was ich über die Welt denke, in der wir leben: Wir ersticken an unseren Lügen; wissenschaftlicher Fortschritt gilt den meisten mehr als spirituelle Werte; wir tun ständig Dinge, von denen die Gesellschaft behauptet, sie seien wichtig, und unsere Seele darbt dabei; uns ist klar, dass wir vieles von dem, was wir machen, nicht so gewollt haben, aber trotzdem sind wir außerstande, alles aufzugeben, um uns Tag und Nacht dem zu widmen, was uns wirklich glücklich macht: der Familie, der Natur, der Liebe. Warum? Weil wir uns verpflichtet fühlen, alles zu Ende zu führen, was wir begonnen haben. Um uns den Rest des Lebens einander widmen zu können, müssen wir zuerst einmal finanzielle Sicherheit erlangen. Weil wir verantwortungsbewusst handeln. Ich weiß, dass du manchmal findest, ich arbeite zu viel. Aber das stimmt nicht: Ich baue an unserer Zukunft, und bald schon sind wir frei, um zu träumen und unsere Träume zu leben.«
An finanzieller Sicherheit fehlte es ihnen wahrlich nicht. Zudem hatten sie keine Schulden und hätten sich einfach so vom Tisch erheben und die Welt verlassen können, die Igor so sehr zu verabscheuen schien. Sie hätten ein neues Leben anfangen können, ohne sich je Geldsorgen machen zu müssen. Ewa hatte das schon häufig angesprochen, aber Igor hatte immer nur entgegnet, was er gerade eben wieder gesagt hatte: Es fehlt noch ein bisschen. Immer noch ein bisschen.
Es war jetzt nicht der rechte Augenblick, über ihrer beider Zukunft zu streiten.
»Gott hat an alles gedacht«, fuhr Igor indes fort. »Wir sind zusammen, weil Gott es so wollte. Wahrscheinlich kann ich immer noch nicht ermessen, wie wichtig du tatsächlich für mich bist, aber ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Gott hat uns zusammengeführt und mir immer, wenn es notwendig wurde, die Kraft gegeben, dich zu verteidigen. Er hat mich gelehrt, dass alles einem festgelegten Plan folgt. Ich darf davon keinen Millimeter abweichen. Denn sonst wäre ich bereits in Kabul gestorben oder säße in Moskau im Elend.«
Aber dann
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