Der Sieger bleibt allein (German Edition)
der Tasche ziehen, die als Zimmerschlüssel dient, oder er wird vor aller Augen weggeschickt. Wer einen Termin hat oder eine Einladung zu einem Drink an der Bar, nennt dem Sicherheitsmann seinen Namen und muss warten, bis jener mit seinem Funkgerät den Empfang angerufen und den Termin überprüft hat, und danach dauert es eine weitere Ewigkeit, bis er nach dieser öffentlichen Erniedrigung endlich eingelassen wird.
Der Fahrer und der Hotelportier öffnen die Türen des weißen Maybach. Die Kameras richten sich auf Ewa, und Fotos werden geschossen. Obwohl niemand sie kennt, ist sie, wenn sie mit einem sündhaft teuren Wagen vorfährt, automatisch jemand Wichtiges. Vielleicht die Geliebte des Mannes neben ihr – und in diesem Fall kann man die Fotos ja an irgendein Skandalblatt verkaufen. Oder, wer weiß, vielleicht ist die blonde Frau ja eine ausländische Berühmtheit, die in Frankreich noch nicht bekannt ist. Später würden sie ihren Namen in den sogenannten Society-Magazinen nachschlagen und sich freuen, dass sie in wenigen Meter Entfernung von ihr gestanden haben.
Hamid blickt auf die kleine Menschenmenge, die sich hinter der Absperrung drängt. Ihm ist das alles nicht geheuer, weil er das aus seiner Heimat nicht kennt. Ein Freund, dem er beiläufig davon erzählte, hatte gemeint:
»Glaub ja nicht, dass das immer Fans sind, die da stehen! Von Anbeginn der Zeit hat der Mensch geglaubt, dass die Nähe zu etwas Unerreichbarem und Geheimnisvollem ihn segnet. Deshalb sind alle auf der Suche nach Gurus und unterwegs zu geheiligten Stätten.«
»In Cannes?«
»Wo auch immer, Hauptsache, eine unerreichbare Berühmtheit zeigt sich in der Ferne. Winkt sie, ist das so, als würde sie Ambrosia und Manna über den Häuptern ihrer Verehrer ausstreuen.
Denk nur zum Beispiel an die großen Popkonzerte. Sie sind letztlich auch nichts anderes als große religiöse Versammlungen. Das Publikum, das vor dem ausverkauften Theater steht und darauf wartet, dass die Superklasse hineingeht oder herauskommt, gehört ebenfalls zu diesem Phänomen. Oder die Menschenmassen, die in Fußballstadien gehen, um zuzuschauen, wie zweiundzwanzig Männer hinter einem Ball herrennen. Idole. Sie werden zu Ikonen mit einer ähnlichen Funktion wie die Bilder in der Kirche. Und sie werden in den Zimmern von Jugendlichen, von Hausfrauen und sogar in den Büros von Industriemanagern verehrt, die trotz ihrer eigenen ungeheuren Macht die Berühmten beneiden.
Es gibt nur einen Unterschied zu den Heiligen auf den Bildern in der Kirche: Bei diesen Idolen ist das Publikum der oberste Richter, der heute applaudiert und morgen etwas Schreckliches über seinen Liebling in einem Skandalblatt lesen und sich sagen möchte: ›Der arme Star. Wie gut, dass ich nicht so bin wie er.‹ Heute verehren sie ihr Idol, und morgen steinigen und kreuzigen sie es ohne das geringste Schuldgefühl.«
13 Uhr 37
Im Gegensatz zu allen anderen jungen Frauen, die an diesem Morgen zur Arbeit erschienen waren und die fünf Stunden Langeweile mit ihren iPods und Handys zu vertreiben versuchen, die sie noch vom Make-up und dem Frisieren vor der Modenschau trennen, hat Jasmine ein Buch vor sich. Ein gutes Buch mit Gedichten.
Zwei Wege trennten sich im gelben Wald,
und weil ich leider nicht auf beiden gehn
und Einer bleiben konnte, stand ich lang
und sah, so weit es ging, dem einen nach
bis dort, wo in der Dickung er verschwand.
Ich nahm den andern dann, auch der war schön
und hatte wohl noch eher Anspruch drauf:
Er war voll Gras und wollt begangen sein.
Was das betraf, so schien’s, dass beide schon
vom Wandern ähnlich ausgetreten waren,
und beide lagen an dem Morgen gleich
im Laub, das noch nicht schwarz von Tritten war.
Ich ließ den ersten für ein andermal!
Wiewohl: Ein Weg führt in den nächsten Weg;
ich hatte Zweifel, je zurückzukehren.
Mit Seufzen sprech ich sicher einst davon
nach langer, langer Zeit und irgendwo:
Zwei Wege trennten sich im Wald, und ich –
ich nahm den Weg, der kaum begangen war,
das hat den ganzen Unterschied gemacht.
Sie hatte den weniger begangenen Weg gewählt. Und hatte dafür einen hohen Preis bezahlt, doch es hatte sich gelohnt. Die Dinge waren im richtigen Augenblick geschehen. Die Liebe war aufgetaucht, als sie sie am meisten brauchte – und war bis heute geblieben. Aus Liebe machte sie ihre Arbeit, mit ihr, für sie.
Besser gesagt: für ihr Liebe.
Jasmine heißt in Wirklichkeit
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