Der Sieger bleibt allein (German Edition)
ihr gehen und sie beruhigen. Ihr sagen, dass alles gut werden wird, schließlich sei es bislang immer so gewesen. Darauf würde sie allerdings eine Bemerkung zu hören bekommen wie: ›Du bist erst neunzehn, was weißt du schon vom Leben?‹
Und Jasmines Antwort wäre dann: ›Ich kenne deine Fähigkeiten genau wie du meine. Seit du vor drei Jahren auf dem Brüsseler Bahnhof die Hand gehoben und sanft mein Gesicht berührt hast, sind wir zusammen, jener Augenblick hat unser Leben verändert. Damals waren wir beide erschrocken, weißt du noch? Aber wir haben unsere Angst überwunden. Deshalb bin ich hier und abgesehen davon, dass du eine ausgezeichnete Fotografin bist, tust du jetzt das, wovon du immer geträumt hast: Kleider entwerfen und produzieren.‹
Sie weiß, dass so eine Bemerkung keine gute Idee wäre: Jemanden, der nervös ist, zu bitten, sich zu beruhigen, hat immer den gegenteiligen Effekt.
Jasmine stellt sich ans Fenster und zündet sich noch eine Zigarette an. Sie raucht viel, aber was soll’s? Es ist ihre erste große Modenschau in Frankreich.
16 Uhr 43
Eine junge Frau in schwarzem Kostüm und weißer Bluse öffnet die Tür. Sie fragt Gabriela nach ihrem Namen, sieht auf ihrer Liste nach und bittet sie, noch einen Augenblick zu warten. Zwei Männer und eine Frau, die möglicherweise noch jünger ist als sie, warten ebenfalls.
Alle warten ernst und stumm darauf, dass sie an die Reihe kommen. Wie lange wird es wohl dauern? Was mache ich eigentlich hier?, fragt sich Gabriela. Eine Frage, auf die sie zwei Antworten findet.
Die erste lautet: Mach weiter! Gabriela, die Optimistin, die so beharrlich daran gearbeitet hat, ein Star zu werden, und jetzt an die große Premiere, an die Einladungen, an die Reisen im Privatjet, an die Plakatwände, von denen sie in den Hauptstädten der Welt herablächelt, an die Fotografen denken muss, die ihr vor ihrer Wohnung auflauern, sich für ihre Kleidung interessieren, für die Boutiquen, in denen sie einkauft, für den blonden jungen Mann, mit dem sie in einer In-Bar gesehen wurde. Sie stellt sich ihre triumphale Rückkehr in ihre Heimat vor und wie die alten Freunde sie staunend und neidisch anschauen. Und sie denkt an die wohltätigen Einrichtungen, die sie unterstützen will.
Die zweite Antwort erinnert Gabriela, die Optimistin, die so beharrlich daran gearbeitet hat, ein Star zu werden, daran, dass sie jetzt auf Messers Schneide wandelt, von der man leicht abrutschen und in den Abgrund fallen kann. Denn Hamid Hussein hat noch nie von ihr gehört, seine Leute haben sie nie mit Abend-Make-up gesehen, womöglich passt ihr das Kleid überhaupt nicht und muss noch geändert werden, und dann kommt sie zu spät ins Martinez. Und außerdem ist sie schon 25 Jahre alt, vielleicht bewirbt sich dort draußen auf der Jacht bereits eine andere Kandidatin, oder Hamid Hussein hat es sich anders überlegt oder will genau das: zwei oder drei Mädchen in der Endauswahl haben und dann sehen, welche von ihnen aus der Menge heraussticht. Alle drei würden zur Party eingeladen werden, ohne dass sie voneinander wussten.
Paranoia.
Nein, das ist keine Paranoia, sondern Realität. Außerdem ist Erfolg nicht planbar, da mögen Gibson und der Filmstar bisher noch so erfolgreiche Filme gedreht haben. Und wenn in diesem Film etwas falschlaufen sollte, wäre es allein ihre, Gabrielas, Schuld. Das Gespenst des verrückten Hutmachers aus Alice im Wunderland ist immer noch gegenwärtig. Gabriela ist gar nicht so talentiert, wie sie immer geglaubt hat, sie ist nur jemand, der sich nach Kräften bemüht. Sie ist kein Glückspilz wie andere. Und obwohl sie Tag und Nacht gekämpft hat, hat sie bisher in ihrem Leben noch nichts erreicht. Seit ihrer Ankunft in Cannes hat sie nicht geruht und gerastet, hat ihre teuren Books an verschiedene Castingagenturen verteilt und ist trotzdem nur zu einem einzigen Casting eingeladen worden. Wäre sie wirklich jemand ganz Außergewöhnliches, könnte sie sich ihre Rollen jetzt aussuchen. Sie wollte zu hoch hinaus, Hochmut kommt schließlich vor dem Fall. Und bald wird sie eine Niederlage erleben, die umso bitterer sein wird, als sie es ja fast geschafft hat... und dann doch kläglich gescheitert ist.
›Ich ziehe schlechte Schwingungen an. Ich spüre sie deutlich. Ich muss mich beherrschen.‹
Vor der Frau im Kostüm und den drei anderen schweigend Wartenden kann sie jetzt nicht gut Yogaübungen machen. Sie muss die negativen Gedanken verscheuchen.
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