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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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    Der Himmel öffnete seine Schleusen am frühen Montagmorgen. Drei Tage hatten die Leichname des Silbernen Volkes in den Höhlen gelegen und längst zu verwesen begonnen. Nun sollten sie zu Asche zerfallen.
    Yeremi hoffte noch immer auf ein Wunder. Sie stand vor dem Ausgang ihres Zeltes und blickte finster zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Sollte Saraf Argyr tatsächlich noch leben, war es für ihn jetzt höchste Zeit, die Höhlen zu verlassen. Jeden Moment musste das Warnsignal ertönen, das die Sprengung ankündigen würde…
    Sie zuckte heftig zusammen, als die Sirene aufheulte. Händeringend wechselte sie einen Blick mit dem Soldaten, der die Einhaltung der Quarantäne überwachte. Der dunkelhaarige Mann mit den indianischen Gesichtszügen wirkte angespannt. Yeremi schauderte. Wie in Zeitlupe massierte sie ihre Oberarme, spürte dort beiläufig die Gänsehaut, lauschte und lauschte und… Beinahe unendlich erschien ihr der scheußlich quäkende Ton, doch als Stille eintrat, empfand sie diese als noch viel unerträglicher. Sogar die Tiere des Waldes schwiegen, als erwarteten sie die Detonationen. Und dann begann unter ihr die Erde zu beben.
    Die Zeitzünder lösten die fünf Explosionen praktisch synchron aus. Im Flammenhauch der Daisy Cutter verglühten die Leichen augenblicklich. Eine Feuerwalze raste durch die Höhlengänge und löschte alles aus. Der unvorstellbare Druck der Explosion suchte ein Ventil und entwich nur Sekunden später mit einer gewaltigen Flammenzunge durch den Ausgang unterhalb des Felsentisches.
    Der feurige Atem fauchte mehr als einhundertfünfzig Meter weit in den Wald hinein. Er verkohlte Bäume und äscherte Vögel, Affen und andere Waldbewohner ein. Dann verschwand er wieder, schnell und fast lautlos.
    Die Desinfektion der Höhlen des Orion war abgeschlossen.
    Der Regen sorgte für Schadensbegrenzung. Bald waren die brennenden Stämme erloschen. Yeremi ließ die Hände sinken, die sie, ohne es zu merken, vor ihre Ohren gehalten hatte.
     
     
    Zwei Tage nach Abschluss der Operation Clean Sweep durfte Yeremi die Quarantänestation verlassen. Zum einen war sie seit mindestens zweiundsiebzig Stunden beschwerdefrei, und zum anderen hatte das guyanische Gesundheitsministerium aus Gründen der Sicherheit ohnehin der ganzen Expedition wie auch der »Schutztruppe« eine Sperrfrist von zwei Wochen auferlegt. Sollten in dieser Zeit auch nur bei einer einzigen Person Symptome des »Silbernen Fiebers« – so der behördliche Name für die tödliche Seuche – ausbrechen, dann wäre an eine Rückkehr aus dem Dschungel vorerst nicht zu denken.
    Obwohl Lytton täglich Rationen der von einem Flugzeug abgeworfenen Medikamente verteilte und deren Einnahme streng kontrollierte, wollte keine rechte Zuversicht aufkommen. Das Silberne Fieber schwebte wie ein Damoklesschwert über den beiden Lagern, und jeder konnte der Nächste sein, auf den es niederfuhr. Selbst bei Yeremi stellte sich keine wirkliche Erleichterung ein, obwohl sie die Seuche überwunden hatte. Ständig dachte sie an das hundertfache Sterben in den Höhlen. Und an Saraf Argyr.
    Sie musste dringend Abstand gewinnen, einen Weg finden, die belastenden Gedanken gleichsam fortzuwischen. Ihr kam die Idee, Ablenkung bei einem Bad zu suchen. In der Nähe des Lagers befand sich ein Bach, dem sie ein Stück stromabwärts folgte. An einer ruhigen Stelle entledigte sie sich ihrer Kleider und stieg vorsichtig ins Wasser. Es war eiskalt. Dennoch wagte sie sich weiter vor. Schon bald genoss sie die erfrischende Umarmung, der sie nur ihren Kopf vorenthielt – an ihm prangte immer noch ein dickes Pflaster. Ja, danach hatte sie sich gesehnt: den ganzen Schmutz der letzten Tage abzuwaschen! Das kühle Nass schien nicht nur Schweiß, Staub und Spinnweben abzulösen, sondern auch ihre Gedanken zu klären.
    Unvermittelt überkam sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Ihr Blick wanderte nervös zu ihren Kleidern hin, die über einem Busch am Ufer hingen – unerreichbar fern. Während sie sich flach im Wasser ausstreckte – sogar Kinn und Mund waren jetzt untergetaucht –, schaute sie sich um. Im nahen Geäst eines Baumes entdeckte sie einen Roten Brüllaffen, der sie interessiert beäugte. Sonst war niemand zu sehen. Warum auch? Der Gedanke, die Gegenwart eines anderen Menschen fühlen zu können, war absurd! Solche angeblichen Wahrnehmungen gehörten, wie Yeremi aus einschlägigen Untersuchungen wusste, ins Reich der Ammenmärchen. Und trotzdem

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