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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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geschickt, weil er, wie ich vermute, seinem Volk beistehen wollte. Vielleicht hat er sich zum Sterben an einen abgelegenen Ort des Höhlenlabyrinths zurückgezogen. Hätten wir noch etwas länger gesucht, wären wir bestimmt irgendwo tief im Berg auf seine Leiche gestoßen.«
    Yeremi verstand absolut nicht, wie Leary den Hüter so einfach vergessen konnte, als handele es sich lediglich um einen verpassten Patiententermin. Sein Zynismus ekelte sie an. Erst Admas qualvolles Ende, dann das explosionsartige Aussterben des Silbernen Volkes und nun auch noch das Verschwinden oder der Tod des Hüters… Yeremi war angesichts der erschütternden Ereignisse außer sich vor Leid. Überdies verwirrte sie der heftige Schmerz, den sie vor allem beim Gedanken an den Tod Saraf Argyrs empfand. Bisher hatte die Gegenwart des Silbermanns in ihr nur Argwohn, manchmal sogar Furcht geweckt. Warum dann plötzlich dieses Gefühl eines großen Verlusts? Vermutlich weil der Wissenschaft dadurch eine einmalige Chance entgeht, redete sie sich ein. Aber dann musste sie an den Feuersturm denken, der bald durch die Höhlen rasen würde, und erschauderte.
    Mit unverhohlener Verachtung erwiderte sie: »Wenn dir schon Menschen nichts bedeuten, dann solltest du wenigstens um die Artefakte trauern, die bei der Explosion unweigerlich verloren gehen werden.«
    Leary ließ sich nicht provozieren. »Unser Auftrag lautete, nach empathischen Telepathen zu suchen, Jerry. Wir konnten ihre Existenz beweisen, haben sie gefilmt, fotografiert und ihre Stimmen aufgezeichnet. Wenn sie auch ihr größtes Geheimnis mit ins Grab genommen haben, wird für unsere Forschung nichts mehr so sein wie früher. Keiner hat mehr das Recht, uns in die esoterische Ecke abzuschieben. Unser großes Ziel ist erreichbar geworden! Wir werden die Pflanzen der Umgegend katalogisieren und ihre Wirkstoffe analysieren. Und mit etwas Glück werden die Höhlen des Orion sogar die Explosionen überstehen und weiter für die Forschung zur Verfügung stehen.«
    »Ja, als Mahnstätte zum Gedenken an die menschliche Überheblichkeit.«
    Hinter Leary erschien der aschgraue Haarschopf von Hamilton-Longhorne. »Darf ich stören?«, fragte die Anthropologin.
    »Nur zu«, sagte Yeremi. »Wir sind ohnehin gerade fertig miteinander.«
    »Nur jetzt?« Hamilton-Longhorne sah den Psychologen fragend an, der erst die Augenbrauen, dann die Schultern hob und sich danach verabschiedete. Anschließend wandte sich Berkeleys große alte Dame der Anthropologie ihrer Kollegin im Zelt zu, ohne es jedoch zu betreten.
    »Tut mir Leid, wie die ganze Sache hier gelaufen ist, Yeremi.«
    »Mir auch, Abby, das kannst du mir glauben! Was gibt’s denn?«
    »Du hast dich bestimmt gewundert, warum uns die Übersetzung des Triptychons noch nicht vorliegt.«
    »Entschuldige, wenn ich im Moment auf der Leitung stehe, aber…«
    »Ich rede von unserem ›Stein von Rosette‹, von der dreiteiligen Inschrift, die wir in der Halle der Gebete entdeckt haben.«
    »Jetzt bin ich wieder online! Was ist damit?«
    »Der New Yorker Kollege, dem ich Irmas Fotos zur Begutachtung geschickt habe, ist leider ziemlich zerstreut. Er hat die Bilder schlichtweg vergessen, und als wir nachfassten, sagte uns sein Büro, er sei noch an der Sache dran, was gar nicht stimmte.«
    »Hätte ebenso gut auch in Berkeley passieren können. Was hat die Koryphäe denn herausgefunden?«
    »Zwei der Tafeln tragen, wie wir vermutet haben, denselben Text in unterschiedlichen Sprachen. Somit besitzen wir auch einen Schlüssel für die dritte und vermutlich älteste Schrift, die den Steingravuren auf Gavrinis gleicht, der bretonischen Ziegeninsel…«
    »Die Al für das sagenumwobene Atlantis hält. Was hat uns der alte König Atlas denn für ein Vermächtnis hinterlassen?«
    Hamilton-Longhornes Mundwinkel zuckten. »Es handelt sich um den Dekalog. «
    »Wie bitte?«
    »Du hast mich schon richtig verstanden, Yeremi. Ich rede von der Geschichte aus dem Buch Exodus: Moses ging mit zwei Stein tafeln auf den Berg Sinai, und Gott schrieb darauf die Zehn Gebote.«
    »Aber das hieße ja…!« Yeremi starrte die Anthropologin ungläubig an und versuchte diese Nachricht in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen.
    Hamilton-Longhorne nickte gewichtig. »Was wir bisher über das Silberne Volk erfahren haben, war nur ein Kratzen an der Oberfläche. Sein Geheimnis ist noch längst nicht gelüftet.«

 
    DER UNSICHTBARE
     
     
     
    Wassarai Mountains (Guyana)
    21. November 2005
    7.30

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