Der silberne Sinn
auch Zorn oder sogar Sorge, stattdessen entdeckte sie ungläubiges Staunen. Einerseits war sie erleichtert, den Hüter des Silbernen Volkes lebendig und ohne ein einziges angesengtes Haar vor sich zu sehen, andererseits fand sie seinen Auftritt dreist. Während sie umständlich die letzten Verschlingungen ihrer Füße löste und sich dabei schwankend aufrichtete, legte sie sich in Gedanken schon ein paar Brocken Arawakisch zurecht, mit denen sie ihn zur Rede stellen wollte. Doch wieder kam Saraf ihr zuvor.
In antiquiert klingendem, gleichwohl flüssigem Spanisch erkundigte sich der Silbermann: »Warum hast du dich mir nie in der Sprache der Konquistadoren offenbart?«
Yeremi verlor sofort wieder das Gleichgewicht und landete da, wo sie schon einmal gewesen war. Auf ihrem Allerwertesten sitzend, beäugte sie den Silbermann wie ein sprechendes Gürteltier. Unter Vernachlässigung aller Höflichkeitsformen stotterte sie: »Du… Du verstehst Spanisch?«
»Ich verstehe dich. Das allein zählt.«
»Wo hast du den altmodischen Wortschatz her?« Yeremi übernahm nun endgültig Sarafs persönlichen Ton. Das distanzierende Sie erschien ihr mit einem Mal unpassend, weder der Freude über seine Auferstehung noch der neuen Verständigungsmöglichkeit angemessen.
In seiner Antwort schwang ein melancholischer Unterton. »Wie ich schon andeutete: von den spanischen Eroberern. Mein Volk besaß ein großes Gedächtnis. Was es einmal gelernt hatte, das vergaß es so schnell nicht wieder.«
»Ich würde es keineswegs als Schande ansehen, wenn über fast fünfhundert Jahre hinweg das ein oder andere verloren gegangen wäre.«
Saraf reichte ihr nur wortlos die Hand.
Ohne lange nachzudenken, griff Yeremi zu und zog sich an ihm hoch. Diesmal wich sie nicht vor ihm zurück. Diesem Mann so nahe zu sein war… Sie konnte das Gefühl nicht einordnen. Beiläufig schob sie ein paar Haare über die rasierte Stelle, die inzwischen gut verheilt war, und blickte fragend in seine blauen Augen. Weil sie dort außer einer großen Traurigkeit nicht viele Antworten fand, sagte sie: »Was ist geschehen? Ich dachte, du wärst tot wie die anderen.«
»Nein, das stimmt nicht, Yeremi Bellman.«
»Was soll das heißen? Ich…«
»Du hast meine Nähe gespürt, als ich über dich wachte. Erinnerst du dich?«
Yeremi zog sich im Rückwärtsgang auf ihre Schlafmatte zurück. Sie schüttelte entschieden den Kopf. Was der Silbermann da sagte, war ihr nicht geheuer.
Obwohl es der Wahrheit entsprach.
»Nein, Saraf, du irrst dich«, antwortete sie wider besseres Wissen. »Vielleicht habe ich hier und da ein fremdes Geräusch gehört, bin aufgeschreckt, aber gefühlt haben kann ich dich ganz sicher nicht.« Plötzlich erschrak sie. »Als ich in dem Bach gebadet habe…«
»Du bist ebenso schön wie Fama. Etwas dünner vielleicht…«
Yeremi konnte die Röte spüren, die ihr ins Gesicht stieg. Ihr Mund stand offen, aber sie brachte nichts heraus, was einem artikulierten Laut auch nur im Entferntesten ähnelte.
»Unter dem Silbernen Volk gilt die Ehre einer Frau als unantastbar«, fügte Saraf schnell hinzu. »Ich hätte mich nie erdreistet… Jedenfalls habe ich an diesem Tag besonders aufmerksam die Umgebung beobachtet.«
Yeremi wollte das Thema nicht vertiefen. »Wieso hast du dich die letzten zwei Wochen versteckt gehalten?«
»Weil ich herausfinden wollte, warum ihr uns das angetan habt.«
»Du meinst…?«
»Ich rede vom Hirguan, das in Gestalt gelber Geister zu uns kam.«
Yeremi sah ihn fragend an. Sie erinnerte sich an die überlieferten letzten Worte von Adma. Also war es doch kein wirres Zeug gewesen. »Was meinst du damit?«
»Du hältst mein Gerede von den Geistern für ein Hirngespinst, nicht wahr?«
»Nun…«
»Nicht die Vorstellungskraft des Einzelnen entscheidet zwischen Sein und Nichtsein, Yeremi Bellman, oder darüber, was zwischen Himmel und Erde existiert. Ob du an die gelben Geister glaubst oder nicht, ist ohne Belang. Ich habe sie gesehen und höre das Blut meines Volkes zu mir schreien. Es wird nicht eher verstummen, bis ich weiß, wer uns die Geister geschickt hat.«
»Und dann?«
»Die Gerechtigkeit verlangt ihren Tribut.«
»Erzähle mir mehr von diesen gelben Geistern.«
Sarafs Augen, die voller Schmerz waren, schienen mit einem Mal durch Yeremi hindurchzublicken. »Adma hatte schon drei Tage früher behauptet, ›gelbe Schattenwesen‹ geisterten nachts durch die Höhlen. Seit dem Tod ihrer Schwester litt sie unter
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