Der silberne Sinn
Leary einmal gefragt, warum er sich fürchte. Glaubst du, er verschweigt uns etwas über den Tod deines Bruders oder er könnte sogar selber…?« Yeremi biss sich auf die Zunge und schüttelte missfällig den Kopf. Allein die Vorstellung war ungeheuerlich!
Sarafs Antwort kam zögernd. »Ich… kann nur sagen, was Al Leary gefühlt hat. Seine Gedanken waren für mich nicht erkennbar. Ugranfir hat mir in der Nacht vor seinem Tod eine Botschaft von Al Leary überbracht. Ich sollte deinen Stellvertreter auf dem Dach des Waldes treffen. Aber weil mir jede Verhandlung hinter deinem Rücken wie ein Vertrauensbruch erschien, habe ich mich geweigert und stattdessen Ugranfir ins Gewissen geredet. Ich machte ihm bewusst, wohin es führen könne, wenn er weiterhin mit den Gefühlen der Fremdlinge spielt. Schließlich schien Ugranfir seinen Fehler einzusehen und versprach, alles wieder ins Reine zu bringen. Am nächsten Tag war er tot.«
»Könnte er sich selbst gerichtet haben?«
»Möglich wäre es.«
»Aber du glaubst nicht daran.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich habe Ugranfir fast mein ganzes Leben lang gekannt. Auch wenn er zuletzt Einsicht bekundete, so wurde er dadurch nicht sofort zu einem neuen Menschen.« Saraf deutete wieder auf das Fernsehgerät. »In mancher Hinsicht glich er den Dominomenschen dort.«
»Wie meinst du das?«
»Ugranfir strebte rastlos nach Ansehen und Bewunderung, wodurch er sich seiner inneren Ruhe beraubte. Im Wald unseres Herzens hat uns der Fühlsinn einen Ort bereitet, der Demut heißt, Yeremi. Von dieser Lichtung aus erkennen wir unsere Winzigkeit – wir leben am Rande des Universums, nicht in seinem Mittelpunkt. Diese Erkenntnis verleiht Ausgeglichenheit. Sie macht frei. Aber Ugranfir hatte sich in Anmaßung verstrickt und merkte gar nicht, wie er seine Lebenszeit mit unnützen Dingen vergeudete.«
»Nein, die kleinen Kisten, mit denen die Menschen auf der Straße sprechen, sind keine Amulette. Man nennt sie Handys. Du hast im Wald doch bestimmt beobachtet, wie wir mit ganz ähnlichen Dingern hantiert haben.«
»Du meinst die großen Zauberknochen?«
»Handys haben nicht das Geringste mit Magie zu tun, Saraf!«
Er blickte ratlos der jungen Brünetten nach, die ihr Mobiltelefon ans Ohr presste und laut Vertraulichkeiten ausplauderte, die sie sonst vermutlich nicht einmal in einem Polizeiverhör preisgegeben hätte. Das Mädchen sprach sogar Spanisch.
»Wenn es weder ein Amulett noch ein Liebeszauber ist, warum bespricht sie den grauen Knochen dann mit diesen obszönen Worten?«
»Weil vermutlich irgendwo ein junger Mann einen ganz ähnlichen Knochen am Ohr hat und ihr atemlos zuhört.«
»Ich finde, das ist eine sehr beklagenswerte Art, seine Liebe zu zeigen.«
»Manchmal ist es die einzige, die uns noch bleibt.«
Saraf dachte eine Weile darüber nach. Dann fragte er: »Könnt ihr mit diesen Knochen auch Kinder zeugen?«
Yeremi war es gewohnt, Wissen zu vermitteln. In Berkeley lehrte sie regelmäßig. Saraf war allerdings ihre bisher größte Herausforderung. Ihn äußerlich an die westliche Norm anzupassen fiel nicht schwer, aus ihm einen modernen Menschen zu machen dagegen sehr. Sie hatte sich hierfür nur eine Woche gegeben. Der Tod des Silbernen Volkes musste schnell aufgeklärt werden, oder er würde womöglich für immer ein Geheimnis bleiben.
Am Donnerstagabend stand The Bottle Restaurant auf dem Programm. Saraf musste lernen, in der Öffentlichkeit mit Messer und Gabel umzugehen, ohne sich oder andere Personen zu verletzen. In der Abgeschiedenheit der Suite hatte er bereits viel versprechende Ansätze gezeigt. Nun wagte Yeremi die Probe aufs Exempel.
Sollte das Dinner von Peinlichkeiten überschattet werden, erhoffte sie sich in dem hoteleigenen Restaurant einen Hausbonus, der den vorzeitigen Abbruch der Übung zu verhindern helfen mochte. The Bottle war ein geschmackvolles Etablissement, dekoriert mit Säulen aus den Ballastziegeln englischer Schiffe, mit portugiesischen Keramikfliesen am Boden und Hunderten von holländischen Flaschen in den Wandregalen. Die kleine Karte bot jene Überschaubarkeit, die Saraf brauchte, um die plötzliche Unabhängigkeit vom Jagdglück nicht als Bedrohung zu empfinden. Yeremi schloss sich seiner Wahl an: Ente à l’orange.
Das Geflügel leistete Sarafs Angriffen erbitterten Widerstand, obwohl der Ober es als »völlig tot« deklariert hatte. Er war ein hagerer Inder fortgeschrittenen Alters mit einem herzerfrischenden
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