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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Zugang?«
    Sie brachte ein gequältes Lachen hervor. »Das erinnert mich an etwas, das Oscar Wilde einmal gesagt hat: ›Wann immer Sie stürzen, heben Sie etwas auf.‹«
    »Weise Worte! Ist er ein Priester?«
    »Wenn, dann einer, dessen Religion die Ästhetik war – er lebt schon lange nicht mehr. Seine Zeitgenossen haben ihn allerdings eher für einen Exzentriker gehalten.«
    »Was bedeutet dieses Wort?«
    »Oscar Wilde galt als verschroben und überspannt, aber auch als ein begnadeter Dichter und Dramatiker. Es heißt, er habe das männliche Geschlecht dem weiblichen vorgezogen. Der Vater seines Geliebten ließ ihn wegen Sodomie ins Zuchthaus sperren.«
    Saraf schien den Fernseher vergessen zu haben und vermittelte Yeremi das Gefühl, jedes ihrer Worte sei von großem Wert für ihn. Langsam nickte er. »Du sagst, dieser Dichter habe außergewöhnliche Gaben besessen?«
    »Ganz bestimmt.«
    »War er ein – wie nennst du es doch gleich? – ein empathischer Telepath?«
    »Davon ist mir nichts bekannt, wenngleich… Mit Worten konnte er die Gefühle anderer Menschen wohl mehr anrühren als mancher andere.«
    »Dann erscheint es mir nicht verwunderlich, wenn er Neider hatte. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die ebenso von Hoffnung wie auch davon spricht, wie wir andere Menschen sehen.«
    Es klopfte an der Tür.
    »Sekunde bitte. Ich habe darum gebeten, heute noch die Schmutzwäsche abzuholen«, entschuldigte sich Yeremi und lief schnell in ihr Schlafzimmer. Mit dem knisternden Plastikbeutel kehrte sie zurück und übergab ihn dem Zimmermädchen. Anschließend ließ sie sich Saraf gegenüber in einen Sessel fallen, machte es sich mit angewinkelten Beinen darin bequem und sagte: »Jetzt zu deiner Geschichte. Ist sie wahr?«
    Saraf lächelte. »Selbst das wundersamste Märchen ist ein Kind der Wirklichkeit, denn es wurde von einem wahren Geist erdacht – kann es da gänzlich erfunden sein? Also pass auf: Da gab es einst ein Dorf, das von einer Mauer umgeben war. Am Tor saß jeden Tag ein alter Mann und begrüßte die Neuankömmlinge. Eines Nachmittags traf ein Vater mit seiner Familie und zwei Lamas ein. ›Was für Menschen leben hier?‹, fragte er den Alten. ›Welche Menschen leben denn in dem Ort, aus dem ihr kommt?‹, entgegnete der. ›Das sind samt und sonders Diebe, alles Taugenichtse, gierig, selbstsüchtig, gedankenlos, gefühllos…‹ Dem Familienvater fielen noch zahllose schlechte Eigenschaften ein. Der alte Mann nickte verstehend und sagte dann: ›Die gleichen Menschen werdet ihr hier antreffen. ‹ Der Familienvater machte sofort kehrt und verließ mit seinen Angehörigen das Dorf. Wenig später kam ein Wanderer daher und fragte den alten Mann: ›Was für Menschen leben hier?‹ Der Dörfler erwiderte: ›Sag mir zuerst, welche Art von Menschen es da gibt, wo du herkommst.‹ Der Wanderer grübelte nicht lang. ›Es sind freundliche, fürsorgliche und rücksichtsvolle Menschen‹, antwortete er. Darauf lächelte der alte Mann und sagte: ›Die gleichen Menschen wirst du hier auch antreffen.‹«
    Saraf machte keinerlei Anstalten, den tieferen Sinn seiner Geschichte zu erläutern. Offenbar hatte er diese Aufgabe Yeremi zugedacht. Sie räusperte sich, als sich das Schweigen unangenehm lang auszudehnen drohte, und sagte: »Im Leben erntet man eben das, was man sät.«
    Saraf nickte zustimmend, schwieg jedoch weiterhin. Dadurch verlangsamte er – bewusst oder nicht – Yeremis Gedankenfluss und zwang sie, hinter die Fassade der Vordergründigkeit zu blicken. Sie schürzte die Lippen und sinnierte angestrengt. Schließlich begann sie leise und mit Bedacht zu sprechen.
    »Ich glaube, die Geschichte entlarvt eine typische menschliche Schwäche: Wir schieben anderen die Schuld an unseren eigenen Problemen zu. Dann suchen wir uns Leute, die genauso handeln – davon gibt es ja jede Menge –, wodurch wir uns bestätigt fühlen. Und finden wir diesen Zuspruch einmal nicht, dann bringen wir unsere inneren Stimmen eben auf andere Weise zum Schweigen.«
    »Du behauptest, keinen Fühlsinn zu besitzen?« Saraf schüttelte lächelnd den Kopf. »Im Grunde ähneln sich unsere Welten sehr: Das Leugnen der eigenen Fehler führt leicht zur Anklage der Mitmenschen, wer sich jedoch seiner Unvollkommenheit stellt, kann auch vor anderen bestehen. Leider hat Ugranfir das zu spät erkannt.«
    »Ugranfir?« Dessen Erwähnung überraschte Yeremi. Sie erinnerte sich an das Verhör im Zelt des Colonels. »Du hast Al

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