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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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unergründliche Dunkelheit. Einen Moment lang beschlich Yeremi das beklemmende Gefühl, von dort draußen beobachtet zu werden. Vielleicht hielt der Kerl noch sein Mobiltelefon in der Hand und überlegte, ob er ein weiteres Mal auf die Wahlwiederholung drücken sollte.
    »Wird ihm nicht viel nützen«, schnaubte Yeremi und zwang ihre Aufmerksamkeit erneut in die engen Grenzen des gelblichen Bogens, der vor ihr lag. Je intensiver sie sich auf etwas anderes konzentrierte, desto schneller würde sie den anonymen Anrufer vergessen.
    Es gehörte zu ihren schon länger gepflegten Gewohnheiten, dem eigenen Geist durch Diagramme und kleine Skizzen auf die Sprünge zu helfen. Als Erstes notierte sie einen Namen und umkreiste ihn mit dem Bleistift: Saraf.
    Nun folgten einige Augenblicke der Versunkenheit, bis sie ein Y an den rechten Rand des Blattes schrieb. Der Buchstabe, der für »Yeremi« stand, wurde ebenfalls mit einem Kringel versehen. Langsam verband sie die beiden Kreise mit einem Strich, den sie an Sarafs Ende mit einer großen Pfeilspitze abschloss – als seine Lehrerin nahm sie erheblichen Einfluss auf ihn. Sie zögerte. Stimmte die Beziehung so? Zögernd malte sie eine zweite, deutlich kleinere Spitze ans andere Ende der Linie.
    Ihre Gedanken wanderten im Strom der Zeit zurück. Alles war so verwirrend: Saraf, die Geschehnisse im Regenwald, die gelben Geister… Diese ganze Verschwörungsgeschichte klang wie jene Mythen, mit denen alte Völker die Rätsel des Lebens zu erklären versuchten. Yeremi starrte auf das Blatt. Jagte sie in Wirklichkeit nur einem Hirngespinst nach?
    Sie schüttelte langsam den Kopf. Es gab da ein paar Ungereimtheiten, denen sie nachgehen musste. Ugranfirs Tod – der Ratsbruder war noch nicht ganz kalt gewesen, da schwebte schon das guyanische Militär ein, als hätten sie bereits gestiefelt und gespornt auf den Marschbefehl gewartet. Und dann das Sterben des Silbernen Volkes – Lytton meinte, eine mutierte Mikrobe habe sie dahingerafft. Verdankte der heimtückische Streptokokkenstamm seine Aggressivität wirklich nur zufälligen Umwelteinflüssen oder einer bewussten Genmanipulation, wie es der Arzt angedeutet hatte? Je länger Yeremi über die letztgenannte Möglichkeit nachsann, desto mehr neue Fragen stiegen in ihr auf: Waren die Mutanten zufällig in die Höhlen des Orion gelangt? Das erschien ihr höchst unwahrscheinlich. Aber warum sollte jemand das Silberne Volk ausrotten wollen? Und wer konnte ein Interesse daran haben…?
    Yeremi notierte zwei neue Buchstaben: AL. Der Psychologe bekam ein hässliches Ei am Rande des Blattes. Weshalb wollte Al Leary still und heimlich die Knotenschnüre entwenden? Ging es ihm nur darum, mit den heiligen Schriften des Silbernen Volkes bei seinem Boss und McFarell zu punkten?

    Oder diente sein falsches Spiel einem ganz anderen Zweck von womöglich viel größerer Tragweite? Auch wenn sich die Silbernen in der Mehrzahl aufgeschlossen und freundlich gegeben hatten, konnten sie sehr schnell sehr schweigsam werden, wenn die Forscher bestimmte Punkte ihrer Geschichte zu erhellen suchten. Die Quipus mussten so ein Tabuthema gewesen sein. Wer immer Al von ihrer Existenz erzählt hatte, galt in den Augen der Silbernen bestimmt als Hochverräter. Wer war dieser Unbekannte? Yeremi zeichnete einen »Ugranfir-Kringel« in die Nähe des »AL-Eies« und verband beide durch eine gestrichelte Linie mit zwei Pfeilspitzen.
    Hatte Al im eigenen Interesse gehandelt? Wohl kaum. Er verdankte seine Stellung und sein beträchtliches Einkommen Jefferson H. Flatstone. Nur durch den Industriellen war der Psychologe zum Team gestoßen. Ja, die ganze Expedition wäre wohl ohne Flatstones Unterstützung nie zustande gekommen. Im oberen Drittel des Blattes entstand ein »JHF-Oval«, das mit dem AL-Ei durch einen dicken Strich verbunden wurde, der Pfeil zeigte auf Leary.
    Wer war dieser Flatstone überhaupt? Yeremi blickte versonnen aus dem Fenster. Schon im Hotel in Georgetown hatte sie nächtelang über ihre Verstrickung in dieses Geflecht aus Namen und Ereignissen nachgegrübelt, aber jene letzte Frage stets vernachlässigt. Ihr Blick kehrte wieder zum Briefpapier zurück. Sorgfältig zeichnete ihr Stift ein Fragezeichen neben das Symbol, in dem Flatstones Initialen standen.

 
    DER VERLEUGNETE AHN
     
     
     
    Morgan Hill (Kalifornien, USA)
    14. Dezember 2005
    11.44 Uhr
     
    Ich habe mit allem Möglichen gerechnet, aber das! Du hast einen Schamanen ins Land

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