Der silberne Sinn
lässt.«
»Dasselbe dürften auch die spanischen Konquistadoren von sich gedacht haben.«
»Du bist hart mit mir, Jerry.«
»Manchmal muss man grob sein, um eine alte Kruste aufzubrechen.«
»Du darfst mir meine Sorge nicht übel nehmen! Dieser Urwaldmann wird wohl kaum ein guter Christ sein, und ich fürchte…«
»Weißt du, was wir in der Halle des Gebets gefunden haben?«, unterbrach Yeremi ihn abermals. Ihr Kinn war wie ein Rammbock vorgestreckt.
»Was? Ich verstehe nicht…«
»Ich rede vom Heiligtum des Silbernen Volkes, der Stätte, die ihnen zur Anbetung diente, bis ihnen jemand den Tod geschickt hat. Wir haben dort Tafeln an der Wand gefunden, ein und denselben Text in drei verschiedenen Sprachen; die Fotos sind auf meinem Notebook, ich kann sie dir zeigen. Die Silbernen hatten in der Halle keine anderen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, nur diese in den Stein gegrabenen Worte. Es handelte sich um die Zehn Gebote.«
Carls graublaue Augen wurden ein gutes Stück größer. »Die von Moses?«
»Nein, die von Greenpeace.«
»Wie bitte?«
»War nur ein Scherz. Natürlich meine ich den Dekalog.«
»Die Tafeln des Zeugnisses!«, hauchte Carl.
»Nun, es sind nicht die Originale. Ehe Sarafs Vorfahren die Abgeschiedenheit des Dschungels wählten, hat ihr Anführer einige Jahre bei den Spaniern gelebt und so das Christentum kennen gelernt. Auf diese Weise hat der Dekalog Eingang ins Gedächtnis des Silbernen Volkes gefunden.«
»Gedächtnis?«
»Saraf benutzt bisweilen diese Wendung. Er spricht ein etwas angestaubtes, aber fließendes Spanisch.«
»Spanisch? Ein Indianer, der vor acht Wochen noch dachte, die Welt sei ein Wald?«
»Man könnte glauben, du hättest einen Papagei verschluckt, Opa Carl. Willst du ihn dir nicht doch einmal ansehen?«
Carl schluckte einen imaginären Klumpen herunter und schaute Yeremi unsicher an.
»Ich verspreche dir, er wird dich nicht in einen Frosch verzaubern.«
»Du solltest etwas mehr Respekt vor einem Graukopf wie mir haben, junge Dame. Also meinetwegen. Stelle mir deinen Medizinmann vor.«
Yeremi winkte in Richtung Geländewagen, die Tür öffnete sich, und Saraf wuchs heraus. Er trug wieder seine Khakihose, ein schwarzes Poloshirt und ein Pflaster auf der Wange (Folge eines Unfalls bei der Morgenrasur). Die Sonnenbrille hielt er in der Hand. Seine Augen waren schmal, doch er lächelte.
Yeremi bemerkte mit Genugtuung, wie die Kinnlade ihres Großvaters heruntersackte. Sein Blick war starr auf Saraf gerichtet. Augenscheinlich entsprach das, was er da sah, nicht im Geringsten seinen Erwartungen. Möglicherweise hatte er mit einem rothäutigen Waldgnom gerechnet, aber nicht mit einem weißen Riesen. Nach einer Weile beiderseitigen Staunens neigte er sich zu seiner Enkelin herüber und flüsterte: »Warum beäugt er mich so argwöhnisch?«
»Er überlegt, ob er dich an Stelle eines Frosches in ein anderes Tier verwandeln könnte.«
Carl straffte den Rücken, lächelte Saraf entgegen und knurrte durch die zusammengebissenen Zähne: »Wir sprechen uns noch, Jerry.«
Molly saß in einem Schaukelstuhl, eine Decke über den Knien, und beäugte – unauffällig, wie sie meinte – den stattlichen Burschen zu Yeremis Linken. In galantem Spanisch hatte der seiner Freude Ausdruck verliehen, sie »endlich kennen zu lernen«, und damit ihr Herz berührt wie seit langem niemand mehr. Yeremis Hand hielt sie umklammert wie einen schon verloren geglaubten, doch überraschend wieder aufgetauchten Schatz. Carl hatte seiner Enkeltochter erklärt, die Depressionen ihrer Adoptivmutter seien in letzter Zeit schlimmer geworden. Das war unübersehbar. Obwohl Molly sich über Yeremis Heimkehr freute, brachte sie nur selten ein überzeugendes Lächeln zu Stande.
Die um Saraf Argyr erweiterte Familie saß auf der Veranda des Landhauses. Fredrika war inzwischen aus Morgan Hill zurückgekehrt und hatte die Köchin mit einem Kofferraum voller Einkäufe überrascht. Während das mehrgängige Willkommensmahl entstand, berichtete Yeremi ausführlich von den verhängnisvollen Ereignissen in den Wassarai-Bergen.
Ab und zu wurde sie von Ahs und Ohs unterbrochen, aber im Großen und Ganzen konnte sie ihre Erinnerungen ungestört ausbreiten. Saraf selbst verstand kein einziges Wort von dem, was da am großen Mosaiktisch bei Eistee gesprochen wurde, weil Yeremi, der Hausordnung folgend, Deutsch reden musste. Gleichwohl registrierte er die verstohlenen Blicke, mit denen er, nicht
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