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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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geschmuggelt?« Carl Bellman hätte ebenso gut vom Anführer eines kolumbianischen Drogenkartells reden können, so entrüstet sah er aus. Der alte Mann stand auf der Treppe vor dem Eingang seines Anwesens, die Hände in die Seiten gestemmt, den Oberkörper leicht nach rechts gebeugt, und spähte an seiner Enkelin vorbei zu dem Geländewagen, dessen dunkel getönte Scheiben ihm weniger Einblick gewährten, als er sich in diesem Moment wünschte.
    Yeremi verdrehte die Augen zum Himmel. Alles hatte so gut begonnen. Nach einem prächtigen Frühstück war sie mit Saraf in den Mercedes gestiegen, hatte ihm rund einhundert Meilen Kalifornien gezeigt und war schließlich – zugegeben, mit einem flauen Gefühl in der Magengrube – die Zufahrt von Bellmans’s Paradise hinaufgerollt. Weil ihre Großmutter in Morgan Hill Einkäufe erledigte, musste sie sich nun ohne Schützenhilfe mit dem eigensinnigen Patriarchen herumschlagen.
    »‘Er ist kein Zauberpriester, Opa Carl, sondern das Oberhaupt eines ausgerotteten Urwaldstammes. Ich helfe ihm, die Drahtzieher hinter dem Anschlag zu finden.«
    »Drahtzieher!«, schnaubte der alte Mann. »Hast du überhaupt Beweise für deine Verschwörungstheorie, Jerry?«
    »Sagen wir, sehr ernste Verdachtsmomente. Ich kann sie dir nennen. Allerdings müsstest du einmal für kurze Zeit deine Vorurteile beiseite schieben und dich beruhigen.«
    »Ich glaube, du machst einen großen Fehler, Jerry. Im Fernsehen haben sie gesagt, alle weißen Indios seien umgekommen, und jetzt schleppst du mir diesen Geisterbeschwörer an.« Sein Zeigefinger schleuderte einen unsichtbaren Blitz in Richtung Auffahrt, wo der Silbermann auf Yeremis Zeichen zum Aussteigen wartete.
    »Was soll der Unsinn, Opa Carl? Ich habe Saraf Argyr nie bei irgendwelchen Beschwörungsriten beobachtet, er nimmt keine bewusstseinserweiternden Drogen und führt auch keine Tänze auf, um in Trance zu fallen…«
    »›Und kein Wunder‹, warnte schon Paulus die Korinther, ›denn der Satan selbst nimmt immer wieder die Gestalt eines Engels des Lichts an.‹«
    Yeremi fühlte, wie ihr Puls zu rasen begann. Sie konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Physiologischer Synchronismus, versuchte sie sich zu beruhigen. Du kennst das Phänomen. Dein Körper spiegelt seine Feindseligkeit wider. Aber damit war nicht erklärt, warum Carl so heftig auf Sarafs Gegenwart reagierte. Schon vor ihrer Abreise nach Guyana hatte er sie mit aller Macht von der Suche nach den empathischen Telepathen abhalten wollen, aber nun grenzte sein Verhalten fast an Hysterie. Früher hatte sie ihren Großvater manchmal um sein Gottvertrauen und seine Beständigkeit beneidet, er hielt an seinem Wertekodex fest, selbst wenn er dadurch einen wirtschaftlichen Nachteil in Kauf nehmen musste. Aber nun ging er eindeutig zu weit.
    Was auch immer der Grund für seine plötzliche Hartnäckigkeit war, Yeremi verspürte jedenfalls wenig Neigung, sich noch länger seinen Launen auszusetzen, und warnte daher: »Wenn du nicht gleich damit aufhörst, lade ich Molly ins Auto und fahre sofort wieder ab!«
    Carl rang die Hände. »Aber versteh mich doch, Jerry! Ich will dich vor Schaden bewahren. Wenn diese empathischen Telepathen wirklich existieren, dann können ihre Kräfte nur von unheimlichen Mächten stammen…«
    »Woher willst du das wissen?«, schnitt ihm Yeremi wütend das Wort ab.
    »Nun… Gott hat so etwas nicht vorgesehen.«
    »Wo steht das? Etwa in der Bibel? Hat Christus seine Wunder etwa mit Satans Macht bewirkt?«
    Carl wurde blass. »Gott bewahre! Aber du wirst diesen… Mann da in deinem Wagen wohl kaum mit unserem Heiland vergleichen wollen.«
    »Warst du es nicht, der mich mehr als einmal gemahnt hat, Jesus nachzuahmen? Hast du mir nicht auch erzählt, der Messias habe jene vollkommene Geistes- und Körperkraft besessen, die Adam und Eva im Garten Eden verspielten und die ihre Nachkommen von Generation zu Generation zunehmend verloren? Und ich höre dich noch heute sagen: ›Vor Gott sind alle Menschen gleich.‹ Jetzt erkläre mir eines: Muss jedes Wunder, das unser schwaches Begriffsvermögen übersteigt, eine Ausgeburt des Bösen sein, oder könnte in Saraf nicht jene göttliche Flamme brennen, die bei uns bestenfalls noch schwelt?«
    Carl sah seine aufgebrachte Enkelin erschrocken an. Mit dieser heftigen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Fast kleinlaut sagte er: »Ich habe mich nie für einen Mann gehalten, der sich von Vorurteilen blenden

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