Der silberne Sinn
Farra alias Rose Presi sei an den Folgen des Unfalls gestorben. Hanussen, rücksichtslos wie er war, hatte sich schon bald eine neue – mittlerweile die dritte – Martha Farra angeschafft. Rose dagegen erholte sich wieder von ihren Verletzungen, heiratete bald darauf den Industriellen Heinrich Bellman und lebte fortan in Minnesota.«
Dort sei dann er, Carl, zur Welt gekommen. In den folgenden Jahren hatte seine Mutter noch einige Male brieflich mit dem Vater ihres Sohnes verkehrt; erst später erzählte sie Heinrich von dieser Korrespondenz. Kurz nach Hitlers Machtergreifung und vor dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 reiste Rose mit ihrem Mann nach Deutschland – Heinrich gehörte zu einer diplomatischen Delegation, deren Besuch bereits im Dezember ‘32, also vor Hitlers Wahlsieg, als Konsequenz aus den politischen Erfolgen Kurt von Schleichers vereinbart worden war. Auch er, Carl, sei mit von der Partie gewesen.
In Berlin kam es zum ersten und einzigen Treffen von Vater Hanussen und seinem unehelichen Sohn. Hanussen wirkte sehr nervös. Um ungestört mit Rose sprechen zu können, trieb er ein halbes Dutzend Leute aus dem »Palast des Okkultismus« – so nannte er sein Domizil in der Lietzenburger Straße. Er sei von einer »bösen Vorahnung« beunruhigt, raunte er, wollte diese jedoch nicht konkretisieren. Nur einige Andeutungen machte er: Karl Ernst, einer seiner Gönner, habe sich trotz Einladung am Vorabend nicht bei einer Seance gezeigt, ein böses Omen an diesem Tag – es war jener, an dem der Reichstag brennen sollte, wie Rose wenige Stunden später erfuhr. Hanussen übergab ihr einen Stapel Dokumente, angeblich sein »Vermächtnis«, und flehte sie an, diese für ihn im Diplomatengepäck nach Amerika mitzunehmen. Wenn sein Engagement in der Berliner Scala Ende März abgelaufen sei, wolle er die Stadt unverzüglich verlassen, um über Meran und Rom in die Vereinigten Staaten auszureisen. Dort solle Rose ihm die Papiere zurückgeben – falls sich seine Ahnungen nicht bewahrheiten würden. Andernfalls, bestimmte er, werde Carl eines Tages fortführen, was er begonnen habe.
»Hanussen wurde am 25. März 1933 ermordet, nur wenige Tage vor seiner geplanten Abreise aus Berlin.« In Carls letzten Worten schwang ein seltsames Gemisch aus Genugtuung und Bedauern.
Tränen rannen über Yeremis Gesicht. Sie fühlte sich benommen, sprachlos und betrogen! Nicht nur die überraschenden Neuigkeiten über ihre familiären Wurzeln verwirrten sie, sondern vor allem…
»Warum hast du mir all die Jahre über nie etwas davon gesagt?« Wut und Enttäuschung brachen wie eine Eruption von Lava aus ihr hervor.
Der alte Mann war tief zerknirscht. Er legte eine Hand tröstend auf die Schulter seiner Enkelin, aber Yeremi schüttelte sie ab. »Ich wollte dir dieses schwere Erbe nicht zumuten, Jerry. Dein Urgroßvater ist ein Betrüger gewesen, ein Nazi-Kollaborateur, jemand, der aus Eigennutz sogar mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hätte – und vielleicht hat er es sogar getan. «
Durch den Tränenschleier konnte Yeremi ihren Großvater nur als verschwommenen Schemen wahrnehmen. Ebenso diffus erschienen ihr seine Rechtfertigungen. Einmal mehr kam sie sich manipuliert vor, weil sie von ihm jahrelang in eine flauschige Lüge eingehüllt worden war. Mochte seinem Schweigen auch die Arglist fehlen, öffnete es ihr doch zumindest in einem Punkt die Augen: Sie musste diese fortdauernde Täuschung unbewusst gespürt und aus diesem Grund ihre dunkelsten Geheimnisse vor ihm verborgen haben. Diese Einsicht war für sie wie ein Bad in eisigem Wasser, sie spürte ihre Füße schon nicht mehr…
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Das war absurd. Wie hätte sie das Ungesagte fühlen sollen? Unmöglich!
»Was ist?«, fragte Carl, dem das Verhalten seiner Enkelin Sorgen bereitete.
Es dauerte eine Weile, bis sich Yeremi wieder hinreichend gefasst hatte. Erst jetzt sickerte die letzte Äußerung aus Carls Bericht in ihr Bewusstsein hinab. »Ich… Ich verstehe nicht… Wie hast du diese Bemerkung über den Pakt mit dem Teufel gemeint?«
Das Thema bereitete Carl offenkundige Pein. Er wand sich, antwortete aber schließlich doch. »Hanussen hat sich mit telepathischen Experimenten befasst. Nicht alle diese Versuche konnten als Tricks entlarvt werden. Es gab und gibt immer noch Menschen, die ihm eine besondere Sensibilität für die Gefühle oder sogar die Gedanken anderer Personen bescheinigen. Er soll ein Abkömmling des
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