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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Wunderrabbis von Prossnitz gewesen sein, eines Angehörigen der Chassidim, die wegen ihrer angeblich magischen Kräfte eine große Anhängerschaft hatten.« Ein Schauder ließ Carls Leib erbeben. »Die Berichte von derartigen Wunderkräften sind mir mein Lebtag suspekt gewesen. Nicht zuletzt deshalb habe ich mich meines leiblichen Vaters immer geschämt, ihn verabscheut, ja, ihn sogar gefürchtet. Gott hat, wie der 104. Psalm es ausdrückt, ›seine Engel zu Geistern gemacht, seine Diener zu einem verzehrenden Feuer‹. Von diesen Geistern haben einige gegen ihren himmlischen Vater rebelliert und treiben nun als Dämonen ihr Unwesen. Ich befürchte, mein Vater hat sich in ihre Gewalt begeben und ist schließlich an ihrem Feuer verbrannt. Du darfst dem teuflischen Lauf deiner Ahnen niemals folgen, Yeremi!« Carls Stimme klang jetzt beschwörend.
    »Dann ist das der Grund, weshalb du mich von der Suche nach den Telepathen abhalten wolltest?«
    Carl nickte. »Du sollst nicht wie dein Urgroßvater enden. Und deshalb flehe ich dich an: Schicke Saraf Argyr fort, damit er nicht dein Verderben wird.«
    Yeremi befreite sich brüsk aus Carls Armbeuge und taumelte ein, zwei Schritte zurück, als sei er das Böse, vor dem er sie doch warnen wollte. Ihre Brust hob und senkte sich vor Erregung. Was verlangte er da von ihr?
    Es kostete sie schon Anstrengung, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen, aber seine Warnung nicht in Bausch und Bogen zu verwerfen erschien ihr fast noch schwerer. Andererseits – bei allem, was er je gesagt oder getan hatte, war es ihm immer um ihr Wohl gegangen. Vielleicht sollte sie auf ihn hören. Seine Schwarzmalerei mochte auf einer Ahnung beruhen, für die er keine andere Erklärung fand als das Wirken dunkler Mächte. Einhunderteinundzwanzig Menschen lebten nicht mehr, weil, wie Saraf es ausdrückte, gelbe Geister sie heimgesucht hatten und nachher in den Himmel entschwunden waren. Wer immer die »Gespenster« geschickt hatte, besaß große Macht…
    Yeremi fühlte sich innerlich zerrissen. Wieder kochte in ihr die Empörung hoch. So leicht durfte sich Carl nicht aus der Affäre ziehen! Er hatte mit einer Lüge gelebt oder doch zumindest ein trügerisches Schweigen über die Familie gebreitet. Yeremi war mit ihrem Vertrauen nie verschwenderisch umgegangen, aber sie hatte ihm den Löwenanteil dessen geschenkt, zu dem sie fähig war. Nun sah sie dieses Verhältnis in seinen Grundfesten erschüttert. Wie konnte er das Recht beanspruchen, sie von Saraf zu trennen? Zugegeben, der Silbermann besaß etwas, das ihr Unbehagen bereitete, aber schließlich wollte sie ihn nicht heiraten. Er verlangte nur Gerechtigkeit für das, was seinem Volk angetan worden war, und sie würde ihm dazu verhelfen. Dazu hatte sie sich verpflichtet.
    Yeremi hob wieder den Blick und sah Carl fest in die Augen. »Was du mir gerade über meinen Urgroßvater verraten hast, schmerzt mich weniger als dein jahrelanges Schweigen. Sollte er sich wirklich dem Teufel verschrieben haben, dann verabscheue ich sein Handeln ebenso wie du. Aber ich bin nicht Hanussen, Opa Carl, selbst wenn sein Blut in meinen Adern fließt. Was immer er getan hat, ist nicht meine Schuld. Und deshalb lasse ich mir von deinen Ängsten auch nicht den Blick auf Saraf oder sonst irgendjemanden verstellen. Ich kann mich noch gut an etwas erinnern, was du mir vor langer Zeit erzählt hast; ich muss damals ungefähr zehn gewesen sein. Wir unterhielten uns bei einem Spaziergang wie diesem über die Vielfalt der Menschen, ihre Lieder, ihre Geschichten und ihre wunderbaren Gaben. Ich glaube, damals hast du ein Samenkorn in meine Seele gelegt, aus dem später die Liebe zur Wissenschaft vom Menschen wuchs. Weißt du noch, mit welchen Worten dir das gelungen ist?«
    »Nun, ehrlich gesagt…«
    »Schon gut, Opa Carl. Ist auch eine Weile her. Ich werde es dir verraten: ›Der Allmächtige‹, sagtest du mir, ›hat den Menschen nur ›ein wenig geringer als Gottähnliche‹ gemacht.‹«
    Carl nickte. »Die Worte stammen aus dem 8. Psalm.«
    »Und ich habe sie bis heute in meinem Innern bewahrt, weil ich sie für die Wahrheit halte: Wir Menschen sind fast so wunderbar wie die Engel – einige von uns bestimmt sogar mehr als andere. Warum sollten in Saraf nicht Fähigkeiten schlummern, die wir längst verloren haben?«
    Carl schüttelte traurig den Kopf. »Merkst du nicht, wie du dich bereits veränderst? Vor zwei Monaten hättest du so etwas bestimmt nicht gesagt.«
    »Seitdem

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