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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Saraf noch gesagt? Man glaubt oft, ohnmächtig zu sein, ist aber so gut wie nie wehrlos.
    »Du nickst? Was geht dir durch den Kopf?« Carl hatte sie eingeholt. Seine Stimme klang sanft, als fürchte er, den eben geschlüpften, zarten Falter zu verletzen.
    Yeremi erwiderte seinen besorgten Blick ohne jeden Groll. »Entschuldige, wenn ich so barsch zu dir war, Opa Carl.«
    »Du hattest allen Grund dazu.«
    Sie hakte sich wieder bei ihm ein und zauberte ein zerbrechliches Lächeln auf ihr Gesicht. »Was ist eigentlich aus den Dokumenten geworden, die Hanussen deiner Mutter gegeben hat?«
    »Rose hat sie ihr Leben lang in der Eichenholztruhe mit den Putten verwahrt.«
    Yeremi nickte. »Ich kann mich noch gut an das sperrige Möbel mit den geschnitzten Engelchen erinnern.«
    »Als ich die Truhe vor einigen Jahren aus dem Haus geschafft habe, ist mir der Nachlass Hanussens wieder in die Hände gefallen. Alles war noch da – bis auf die schwarze Akte.«
    »Enthielt sie die Dokumente, die er ihr am Tag des Reichstagsbrandes in Berlin übergeben hat?«
    »Sie war ein Teil davon. Es handelte sich um einen zwei Finger dicken Packen von Unterlagen, mit Gummibändern zwischen schwarzen Pappdeckeln verschnürt. Rose solle gut darauf Acht geben, hatte Hanussen ihr eingeschärft. Sie muss die schwarze Akte gesondert aufbewahrt oder nach seiner Ermordung vielleicht sogar vernichtet haben; Mutter war nicht im Geringsten daran interessiert, mich in Hanussens Fußstapfen treten zu lassen. Was von seinem Zeug noch da ist, darfst du dir gerne ansehen. Die Akten enthalten seine biografischen Daten, Unterlagen über geschäftliche Transaktionen und pseudowissenschaftliche Erläuterungen zu seinen ›Experimenten‹. Es sind sogar ein paar Erstausgaben seiner Bücher darunter.«
    »Ich würde mir das Material gerne anschauen.«
    »Dann laden wir es nachher in deinen Mercedes, und du nimmst es mit ins Strandhaus.«
    »Danke, Opa Carl.« Yeremi fühlte sich merkwürdig aufgekratzt. Vielleicht beantwortete ja das Vermächtnis ihres verleugneten Ahnen einige der Fragen, die sie Umtrieben. Und womöglich fand sie darin sogar ein Patentrezept, wie sie sich ihrer Gefühle in Bezug auf Saraf Argyr sicher sein konnte.
     
     
    Der Lunch überraschte Saraf. Als Entree gab es gebackene Garnelen, zum Hauptgang Spare Ribs, und die Nachspeise bestand aus gespießtem und mit Kuvertüre übergossenem Obst – allesamt Speisen, die mit geringstmöglichem Werkzeugeinsatz genossen werden konnten. Die sonst so auf perfekte Tischsitten bedachte Fredrika war zu Ehren des Gastes über ihren eigenen Schatten gesprungen, und Yeremi musste einige Überzeugungsarbeit leisten, um ihn vor einem Rückfall in alte Essgewohnheiten zu bewahren.
    Dabei war sie ein wenig zerstreut. Ihr ging noch das Gespräch mit Carl durch den Kopf. Nach der Aussprache mit ihm hatte sie ihn – wieder einmal – um mehrere Gefallen gebeten. Zum einen beschäftigte sie nach wie vor die rätselhafte Krankheit, die das Silberne Volk dahingerafft hatte. Sie wollte sich mit der von Doktor Singh erhaltenen Auskunft nicht abfinden. Der zwielichtige Arzt mochte ja einige Übung in der Behandlung von Schussverletzungen haben, aber Yeremi traute ihm keine fachliche Kompetenz in Fragen der Mikrobiologie oder Immunologie zu.
    Carl wusste für ihr Anliegen eine Lösung. Doktor Heinz Sibelius kümmere sich seit drei Jahrzehnten um sein körperliches Wohl. Er verfüge über ein profundes Wissen und kenne einige sehr namhafte Kollegen, die er im Bedarfsfall »ganz privat« um Rat fragen könne. Yeremi kannte den Vertrauensarzt ihrer Großeltern. Als Zehnjährige war sie von einem Baum gefallen, und Sibelius hatte ihr eine Tetanusspritze in den Hintern gejagt. Gleich nach dem Spazier gang rief Carl den Arzt an. Nach wenigen Minuten hatte Yeremi ihn dann am Telefon.
    Sie schilderte ihr Problem: Bakterieninfektion am 18. November, möglicherweise eine Blutvergiftung durch eine Streptokokkenart, die unter anderem auch Scharlach auslösen kann; dank Penicillin und anderer Medikamente, deren Namen sie nicht mehr wusste, ging es ihr schnell wieder besser. Sibelius wiederholte, was sinngemäß schon Singh gesagt hatte: »Für das Immunsystem des Körpers sind abgetötete Bakterien nur Müll, der innerhalb weniger Stunden hinausgekehrt wird.«
    »Dann gibt es keinerlei Möglichkeit, die Art des Bakteriums zu ermitteln?«
    »Das habe ich nicht behauptet«, drang Sibelius’ Stimme aus dem Hörer.
    Yeremi horchte

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